AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 -
Beitrag vom 04.03.2006
Ein ganz gewöhnlicher Jude
Sharon Adler
Das Buch des Schweizer Autors Charles Lewinsky. Laut, leise, subtil, intensiv, authentisch und sehr gelungen. (Fast) alle Infos über Juden in 89 Minuten.
Ganz gewöhnliche Juden?
In einem ähnlichen Dilemma wie der Protagonist des Buches "Ein ganz gewöhnlicher Jude" befindet sich in dieser Minute die Rezensentin – wo fange ich an, was schreibe ich, was nicht, wie kann ich das Thema und den Tenor intelligent erklären, verständlich transportieren - und vor allem – zum Lese- oder Kinobesuch motivierend darstellen? Denn sowohl die Buchvorlage als auch die Verfilmung ist absolut sehenswert – jedes einzelne Wort, jeden Satz und jede Geste müsste man hier veröffentlichen.
Nu...:
Der Journalist Emanuel Goldfarb (Ben Becker) wird gebeten, vor einer 8. Schulklasse über sein Leben "als (nach 1945 in Deutschland geborene) Jude in Deutschland" zu sprechen. Eine "Schnapsidee", meint Goldfarb. Ist nicht schon genug zum Thema "Juden in Deutschland" gesagt, geschrieben, lamentiert worden?
"Was soll ich für ein Gesicht dabei machen? Freundlich lächelnd? So? Oder besser so? Die Last von viertausend Jahren Geschichte auf meinen Schultern? Oder lieber so, dass man die Nase besser sieht?"
Und nur, weil er gut Geschichten erzählen kann, will er "nicht öffentlich Ich sein müssen", mehr noch, er will das Unmögliche, "ein ganz gewöhnlicher Mensch, ein ganz gewöhnlicher Jude" sein und "keineswegs wie ein Vertreter einer ausgestorbenen Tierart behandelt werden".
"... Ein gewöhnlicher Jude in Deutschland –
das ist wie ein ganz gewöhnliches Spitzmaulnashorn in Afrika.
Ein Widerspruch in sich.
Wir sind zu selten geworden, wir Nashörner.
Man hat uns zu lange gejagt und abgeschossen.
Wir sind ein Fall für die Tierschützer geworden.
Für Greenpeace und den Verein für christlich-jüdische Zusammenarbeit.
Nashörner guckt man sich im Zoo an, Juden lädt man sich in den Unterricht ein..."
Sehr geehrter Herr Gebhardt, Sie haben mir einen Brief geschrieben....
Seine fiktive Antwort auf die Anfrage des Lehrers, spontan und deutlich zum Absagebrief formuliert, entwickelt sich zur Abrechnung mit der ganz besonderen deutschjüdischen und jüdischdeutschen Beziehung - und zur Reflexion auf sein eigenes Leben, seiner ganz persönlichen Geschichte als Sohn von Holocaust-Überlebenden, als Vater eines nicht-beschnittenen Sohnes und Ex-Ehemann einer nichtjüdischen Frau. Goldfarbs Rede sinniert über das Thema israelische Politik und die ständig präsente Erwartungshaltung an ihn, Statements dafür oder dagegen abzugeben, über all die Stereotypen, denen Juden in Deutschland und anderswo ausgesetzt sind.
"Alle Optimisten sind Träumer, damit behalten die Pessimisten auch immer recht. Sie werden bloß nicht glücklich dabei."
Immer und immer wieder beginnt, verwirft und schließlich entwirft Goldfarb seinen Brief, einen emotional geladenen Monolog, auf seiner IBM-Kugelkopf-Schreibmaschine - er wühlt in Familienfotos, "Es ist nun mal so, dass die Leute auf meinen Familienfotos auf andere Weise tot sind als Ihre", rauft seine blonden(!) Haare, läuft auf-und-ab, philosophiert, trinkt Rotwein, setzt seine Brille auf und ab – in atemberaubend furiosem Tempo. Im Film dargestellt von einem konzentriert- authentischen Ben Becker.
"Jude ist kein Schimpfwort" dieses Fazit zieht Goldfarb, der es satt hat, als "Mitglied Ihrer Religionsgemeinschaft" oder "jüdischer Mitbürger" mit dem "Gedenkansprachen-Gesicht", dem Lea Rosh-Gesicht" von seinem Nicht-Jüdischen Gegenüber angesprochen zu werden.
"Jude heißt das!" schreit er wütend in das Diktiergerät, das seinen Monolog aufzeichnen wird.
Doch - wie also wird Emanuel Goldfarb die Anfrage des Lehrers beantworten?
AVIVA-Tipp: Man sollte das Buch nicht ohne den Film genießen und umgekehrt. Ben Becker als Emanuel Goldfarb in der Verfilmung von Oliver Hirschbiegel ist grandios. Laut, leise, subtil, intensiv, authentisch und sehr gelungen. (Fast) alle Infos über Juden in 89 Minuten. Jeder einzelne Satz des eineinhalb Stunden dauernden, intensiven Monologs ist es wert, gedruckt, gesehen und gehört zu werden.
Die Zitate sind dem Buch "Ein ganz gewöhnlicher Jude" von Charles Lewinsky entnommen.
Charles Lewinsky: Ein ganz gewöhnlicher Jude
Rotbuch Verlag, erschienen August 2005
ISBN 3-434-54524-7
9,00 Euro90008115&artiId=3588898"