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Beitrag vom 03.02.2006
Ein Kaddisch für seltene Vögel
Sarah Ross
Anita Albus ist es gelungen, zugleich einen faszinierenden Thriller, ein bewegendes Klagelied und eine Hymne auf alle ausgestorbenen und gefährdeten Vogelarten dieser Welt zu schreiben.
Anita Albus ist nicht nur Autorin, sondern auch eine Vogelliebhaberin, Privatgelehrte und Malerin, wie sie in ihrem Prachtband "Von seltenen Vögeln" ohne jeden Zweifel beweist. In einer mal poetischen und dann eher wissenschaftlichen Erzählweise berichtet sie über untergegangene und bedrohte Vogelarten wie kein/e andere/r. Dies tut sie auf ganz anschauliche Art und Weise, ohne dabei einen apokalyptischen Ton anzuschlagen, obwohl das, worüber sie schreibt, diesen rechtfertigen würde. Eine besondere Bereicherung erfährt der Band durch die von ihr und von fremder Hand gezeichneten, zahlreichen Vogelbilder sowie durch zwei Falttafeln.
Die Autorin beschreitet in ihrem Buch einen ungewöhnlichen Weg:
Während sie uns über die wundersamen Liebesspiele der Vögel, ihre Balz und ihre Schönheit informiert, macht sie den LeserInnen in Wort und Bild ohne Umschweife bewusst, dass es sich hierbei um bereits ausgestorbene, bzw. vom Aussterben bedrohte Vogelarten handelt. So lautet die Message des Buches:
Dieser Naturverlust ist im Wesentlichen auch als ein Kulturverlust zu beklagen, da mit jeder verlorenen Spezies auch eine "Welt" untergeht, die sich im menschlichen Geist - in den Künsten, der Mythologie und der Wissenschaft - widergespiegelt hat.
Im ersten Teil des Buches widmet sich Anita Albus den bereits untergegangenen Vogelarten, wie der Wandertaube, dem Karolinasittich, dem Riesenalk und dem Blauara. So eröffnet sie beispielsweise ihren Bericht mit einem Untergangsszenario, das gleich zu Beginn unseren Blick für die schlimmen und schleichenden Verluste in der Natur schärfen soll. Albus erzählt in ihrem gewagten ersten Kapitel "Taubenfinsternis" von der amerikanischen Wandertaubenplage im 19 Jahrhundert, und wie diese Spezies durch die darauf folgenden Massaker ausgerottet wurden. Die Autorin bringt es gleich zu Anfang ihres Buches auf den Punkt: "Kein Mensch kann sich für Millionen Vögel erwärmen" (Seite 18). Eingebettet ist dieser Naturkrimi in die Erzählung des zeitgenössischen Ornithologen John James Audubon, der allgemein verständlich aber rigoros beschreibt, wie Milliarden von Wandertauben - wie in Alfred Hitchcocks Thriller - über das Land, die Wälder und schließlich die Menschen herfielen und diese in einem ungeheuerlichen Gemetzel vernichten. Nur eine Taube namens Martha überlebte.
Noch erschlagen von der Nüchternheit, mit der Anita Albus anfangs die Vorgänge in der Natur und wie deren Gleichgewicht durch das Eingreifen des Menschen zerstört wird, erzählt sie im zweiten Teil des Buches von den Gewohnheiten, Eigenarten, Vorlieben und eindrucksvollen wie teilweise auch merkwürdig anmutenden Fähigkeiten der bedrohten Vogelarten. Schon in den einzelnen Kapitelüberschriften weist die Autorin mit gewählten Attributen auf die jeweiligen Besonderheiten der vorgestellten sechs Spezies hin: Die Autorin widmet sich also dem wundersamen Waldrapp, dem scheuen Wachtelkönig, dem unheimlichen Ziegenmelker, der schönen Schleiereule, der kühnen Sperbereule und dem weisen Eisvogel. Spätestens hier wird dem Leser und der Leserin klar, das Albus´ Werk über seltene Vögel weitaus mehr als bloß eine gelungene Sammlung von Beobachtungen ist: Dieser Band kommt einer unerschöpflichen Enzyklopädie gleich, die von der Beschreibung ihrer Lebensräume und Empfindlichkeiten, ihres Jagd- und Lusttriebs, über die Besprechung historischer und aktueller Forschungsliteratur, bis hin zu einer Auflistung volkstümlicher Vogelnamen und den Vogelmythen verschiedener Völker reicht. Schlussendlich setzt sich Anita Albus in ihrem Nachwort noch kritisch und klug, sowie mit einem Schuss Polemik, unter anderem mit Darwins Evolutionstheorie auseinander.
AVIVA-Tipp:
So wie das Kaddisch zum Gedenken der Toten gesprochen wird, wurde dieses Buch zur Erinnerung, aber auch als Ermahnung, an die seit 1800 einhundertdrei ausgestorbenen und zweitausend bedrohten Vogelarten geschrieben.
Dieses Buch ist ein Vogelthriller, ein Kuriositätenkabinett zwischen zwei Buchdeckeln, ein solides wie faszinierendes Nachschlagewerk von bleibendem dokumentarischem Wert, ein Loblied auf die Schönheit und Einzigartigkeit der gefiederten Tiere, ein Kondolenzbuch für eine untergegangene, zerstörte und bedrohte Welt und gleichzeitig ein Zeichen des Protests gegen die Ignoranz, mit der wir Menschen die Umwelt behandeln. In diesem Werk gehen phantastische und kriminalistische Anekdoten, die die Natur schrieb, mit bemerkenswerten Zeichnungen und Stillleben Hand in Hand.
Zur Autorin:
Anita Albus wurde 1942 in München geboren. Sie studierte in Essen-Werden Graphik und begann ihre künstlerische Karriere als Autorin von Kinderbüchern. Berühmt wurde sie vor allem durch ihre minutiös gemalten Naturdarstellungen, von Pflanzen, Vögeln, Schmetterlingen, die vielfach ausgestellt wurden, zuletzt 2004 im Hessischen Landesmuseum Darmstadt. Neben der Malerei hat sich Anita Albus auch der Literatur gewidmet. Als Autorin von Erzählungen (u.a. Liebesbande), Romanen (u.a. Farfallone) und einer Reihe von kunsthistorischen Essaybänden - Die Kunst der Künste, Paradies und Paradox etc. -, die zu Kultbüchern wurden. Für ihr vielseitiges künstlerisches Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Johann-Heinrich-Merck-Preis für literarische Kritik und Essay (2004).
Anita Albus lebt in München und in Burgund.
Anita Albus
Von seltenen Vögeln
Mit zahlreichen Abbildungen und zwei Falttafeln
Gestaltet von Franz Greno
S. Fischer Verlag, September 2005
ISBN 3-10-000620-8
299 Seiten, Großformat, gebunden mit Schutzumschlag
48,00 Euro90008115&artiId=3572774"