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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 11.02.2005


Schwester Bruder. Gertrude und Leo Stein
Karin Effing

Die Doppelbiographie von Brenda Wineapple widmet sich den Geschwistern in ihrer Unterschiedlichkeit und beleuchtet die wechselhafte Beziehung der beiden zueinander. Sehr detailliert und ausführlich.




Die Geschwister Stein in Paris, das sind die skurrile und bekannte Schriftstellerin Gertrude und ihr Bruder Leo, der weniger bekannte Kunstkritiker und Theoretiker, die in Paris in der Rue de Fleurus 27 wohnten und dort Bilder von Picasso, Matisse, Cézanne und anderen KünstlerInnen sammelten und regen Kontakt mit ihnen pflegten. Ihr Salon wurde zu einem wichtigen Anlaufpunkt der Kunstschaffenden und Intellektuellen dieser Zeit.

Es war Leo Stein, der 1903 nach Paris ging und, so schildert es Wineapple, begann, Gemälde in den Galerien und dann von den MalerInnen persönlich zu kaufen. Wineapple beschreibt in ihrem Buch die Entwicklung dieser beiden interessanten Persönlichkeiten und deren Beziehung zueinander. Beide Geschwister sind die jüngsten zwei von fünf Kindern. Leo war zwei Jahre älter als Gertrude Stein. Sie wuchsen in Amerika als Kinder jüdischer Einwanderer auf. Schwester und Bruder standen sich sehr nahe, sie reisten zusammen und ließen sich 1904 in Paris in einer gemeinsamen Wohnung nieder. Sie lebten fast wie ein Ehepaar und bezeichneten sich selbst scherzhaft als solches. Aber Leo verließ 1914 plötzlich die gemeinsame Wohnung und Bildersammlung. Die Wege der beiden Geschwister trennten sich für immer. Die "sture" (und manchmal unsympathisch, aber immer interessant geschilderte) Gertrude verweigerte nach seinem Auszug jeden Kontakt und reagierte nicht auf Versöhnungsversuche von Leo.

Die ausführliche Biographie, sie umfasst über 650 Seiten, folgt den Wegen der beiden Personen in ihrer Entwicklung. Gertrude Stein entschloss sich erst nach einem Studium der Psychologie und Medizin, Schriftstellerin zu werden. Detailliert schildert Wineapple dieses Studium.

Bücher in diesem Umfang sind nicht immer interessant. Es ist einfach nicht besonders spannend, über unzählige Seiten zu lesen, dass Gertrude Stein den und den Kurs belegt und die und die Episode erlebt. Daran ändert auch nichts, dass die Schilderungen interessante Auskünfte über die Geschichte jüdischer Einwandererfamilien in Amerika, sowie über das Studium und die Diskriminierung von Frauen (und JüdInnen) an amerikanischen Universitäten geben.
Bücher in diesem Umfang brauchen manchmal den Willen, weiter zu lesen, auch wenn sie gerade mal nicht besonders fesselnd sind, denn sie haben etwas Besonderes zu bieten und das sind die Seiten, wenn eine Person oder eine Geschichte zu ihrem Kern oder zu sich kommt. Dicke Bücher kommen damit dem wahren Leben näher, das niemals zielgerichtet und spannend auf 120 Seiten erzählt werden kann. Und Biographien wollen sich ja dem Leben (bestimmter) Menschen nähern. Deswegen lohnt es sich, den Weg durch dieses Buch zu gehen, den Irrwegen und dem Noch-irgendwie-verloren-sein zu folgen. Dem Leben der Geschwister. Der Schwester, die (fast) plötzlich "da" ist, weiß, was sie will, und was sie nicht mehr will, u. a. ihren Bruder. Sie brach immer wieder den Kontakt zu Menschen ab, z. B. wenn sie ihre Texte kritisierten oder nicht verstanden.
Und der Bruder, der weiter irrte, sein zigster Versuch und Vorsatz, ein Werk zu vollbringen, dessen zwanzigste Hungerkur man zum zwanzigsten mal liest, fast quälend. Aber am Ende seines Lebens schrieb er tatsächlich ein kunsttheoretisches Werk. Ein kleines Buch, das Anerkennung fand.

Die Doppelbiographie ist eher denen empfohlen, die schon etwas über die Geschwister wissen. Wer Gertrude Stein kennen lernen will, liest vielleicht erstmal lieber "Paris war eine Frau" oder schaut sich "Gertrude Stein. Ein Leben in Bildern und Texten", ebenfalls aus dem Arche-Verlag, an. Oder macht sich gleich an die amüsante Autobiographie, die sich hinter dem Titel "Autobiographie von Alice B. Toklas" verbirgt. Gertrude Stein hat sich hier selbst ein Denkmal gesetzt, indem sie vorgibt, aus der Sicht ihrer Lebensgefährtin beschrieben zu werden.
Wineapples Buch enthält einen ausführlichen Anhang, in dem sich auch der frühe Essay Gertrude Steins "Degeneration bei amerikanischen Frauen" befindet.
Die Wahl der Bilder hätte schöner sein können.

Zur Autorin:
Brenda Wineapple
, geb. in Boston, Mass. Professorin für Moderne Literatur und Geschichte am Union College, Schenectady, New York, und Kodirektorin des Biographie-Seminars an der New York University. Veröffentlichte Biographien über Janet Flanner und Genet, schreibt u.a. für die "New York Times" und "Women´s Review of Books". Diverse Auszeichnungen. Sie ist verheiratet mit dem Komponisten Michael Dallaira und lebt in New York.
(Quelle: Arche-Verlag)


Brenda Wineapple
Schwester Bruder. Gertrude und Leo Stein. Biographie

Aus dem Amerikanischen von Roseli und Saskia van Beek
Arche Verlag, November 2001
ISBN 3-7160-2233-0
15,50 Euro
656 Seiten, Hardcover mit s/w-Abbildungen
www.arche.de


Weiterführende Literatur:

Leo Steins kunsttheoretisches Werk:
Appreciation: Painting, Poetry, and Prose
Von Leo Stein
(Einleitung von Brenda Wineapple)
University of Nebraska Press, Februar 1996

Bücher zu Gertrude Stein:
Paris war eine Frau

Andrea Weiss
Edition Ebersbach, Oktober 1996200614406375"

Gertrude Stein. Ein Leben in Bildern und Texten
Von Gertrude Stein, Renate Stendhal
Arche Verlag, Dezember 1989
www.arche.de



Literatur

Beitrag vom 11.02.2005

AVIVA-Redaktion