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Beitrag vom 07.07.2010
Gerlinde Unverzagt - Eltern an die Macht. Warum wir es besser wissen als Lehrer, Erzieher und Psychologen
Tatjana Zilg
Die Berliner Autorin, die auch unter dem Namen Lotte Kühn veröffentlicht, meint es bitterernst mit dem Titel ihres neuen Werkes. So enttäuscht sie alle Hoffnung, er sei ironisch provokant gemeint...
... und es sei Sinn des Buches, auf differenzierte Art neue Blickwinkel auf die gegenwärtige Lage in der Pädagogik zu eröffnen.
Im Grunde ist schnell zusammengefasst, wogegen Gerlinde Unverzagt auf 234 Seiten wettert: Sie befürchtet durch die allgegenwärtige Diskussion über Frühpädagogik, Gesundheitsprävention, PISA-Tests und Ausbildungsfähigkeit der jeweils nachrückenden Generation werden alle Eltern des Landes unter den Generalverdacht genommen, alles falsch zu machen. Sie moniert den Wegfall des vertrauensvollen Glaubens in die Erziehungskompetenz von Eltern, sieht deren Freiheit gefährdet und deutliche Anzeichen dafür, dass Familien immer mehr staatliche Überwachung zugemutet wird.
Gerlinde Unverzagt scheitert daran, ihre vehementen Vorwürfe an den "Staat" durch komplexe Argumentationen zu untermauern. Nie verfolgt sie eine eingeschlagene Richtung bis in die dazugehörigen Details und selten unternimmt sie den Versuch, Quellen nachzuweisen. So schlägt der LeserInnenschaft ein Labyrinth an Eigenerinnerungen aus ihrer Kindheit, geschichtlichen Gewaltsprüngen, Anekdoten aus dem eigenen Umfeld und aus Zeitungsberichten sowie dem festen Glauben an die Kraft der Familie entgegen. Einen wesentlichen Wendepunkt in der staatlichen Haltung gegenüber Familien sieht sie in der Neugestaltung des Paragraphen 1631 II BGB vom 2.11.2000, bei der im Absatz 2 die Möglichkeit der rechtlichen Verfolgung von körperlichen Bestrafungen (Kindesmißhandlung) um die von seelischen Verletzungen und anderen entwürdigenden Maßnahmen erweitert wurde. Sie wittert hier die Gefahr, dass der in ihren Augen zu unpräzise Wortlaut dafür sorgt, dass Eltern permanent von außen beobachtet werden und durch Falschauslegungen ihres Erziehungsverhaltens zu StraftäterInnen zu mutieren. Sie fragt sich, ob so nicht gegebenenfalls auch Taschengeldentzug, Fernsehverbot und Hausarrest zur Einschaltung des Jugendamtes führen könnten. Womit sie aufzeigen möchte, dass das Erziehungsverhalten von Eltern immer im näheren Zusammenhang gesehen werden muss. Dies wird keine(r) bestreiten, aber genau dies wird auch geschehen, wenn KITA-ErzieherInnen, LehrerInnen oder andere Beteiligte nachfragen: Manche Sache wird rasch geklärt und wieder vom Tisch sein. Wenn dadurch aber an anderer Stelle frühzeitig Verhaltensweisen sinnvoll verändert werden können und Kindern eine längerfristige schädliche Entwicklung erspart bleibt, liegt hier der Nutzen doch deutlich über dem Ärgernis.
Unverzagt bleibt im seltsam Verwischten, anstatt die juristische Grundlage näher vorzustellen. Der von ihr misstrauisch beäugte Paragraph wird nicht vollständig zitiert und wer dies nachholt, erfährt, dass im ersten Absatz alle Rechten und Pflichten wie eh und je den Eltern zugestanden werden und erst der zweite Absatz das Leben der Kinder darüber hinausgehend schützen soll, indem er besagt: "Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig." Unverzagt meint nun zu erkennen, dass die Welt sich auch zuvor gedreht hat und Kindern nicht seriell Schaden zugefügt wurde, welches sie unter anderen mit ihren Kindheitserinnerungen zu beweisen sucht und am Umgang mit den eigenen Kindern. So schreibt sie: "Aus der Kultur des Hinsehens wird so eine Kultur des Anzeigens. Sie gedeiht prächtig im völlig überhitzten Klima durchgeknallter Sicherheitsbedürfnisse in unserer angstbesessenen Gesellschaft. Das hilft Eltern nun wirklich nicht: Wir sind keinesfalls blind und taub, wenn es um die Sicherheit unserer Kinder geht, sondern im Gegenteil, sehr wachsam und äußerst empfindlich."
Wenn Unverzagt endlich einmal statistische Zahlen hervorholt, belegen diese durchaus, dass etliche Kinder in der Vergangenheit von nicht gewaltfreier Erziehung betroffen waren, auch wenn die Autorin dies anschließend verharmlosen möchte. Dies bleibt das größte Defizit des Buches: Es gibt kaum übersichtliche Einblicke in die historische Entwicklung der Kindeserziehung und des Kinderschutzes und kommt so leider nie über den subjektiven Tellerrand hinaus.
AVIVA-Fazit: Es fällt schwer, den Auslegungen der Autorin mit Interesse zu folgen. Zu sehr verliebt sie sich in ihr Anliegen und vergisst dabei, dass sie ihr Gegenüber auf der lesenden Seite erst einmal fundiert überzeugen muss, bevor sie Sympathiepunkte gewinnen kann. So bleibt die Nachhaltigkeit gering. Kein Sachbuch, kein Ratgeber liegt hier vor, sondern nur ein dürftiges Plädoyer für den Imperativ des Titels. Es ist zu vermuten und zu hoffen, dass eine heterogene Jury aus Eltern, PädagogInnen, PolitikerInnen und Kindern über diesen Generalangriff auf den Wandel im Erziehungswesen und in den Kinderschutzgesetzen nur gelangweilt den Kopf schütteln würde.
Zur Autorin: Gerlinde Unverzagt, geboren 1960, arbeitet als freiberufliche Journalistin für verschiedene Zeitungen, Zeitschriften und den Hörfunk. 2006 veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Lotte Kühn den Bestseller "Das Lehrerhasserbuch", der sich über 250.000 Mal verkaufte. Gerlinde Unverzagt ist alleinerziehende Mutter von vier Kindern.
Weitere Infos und Kontakt unter: www.gerlinde-unverzagt.de
Gerlinde Unverzagt
Eltern an die Macht!
Warum wir es besser wissen als Lehrer, Erzieher und Psychologen
Gebundene Ausgabe: 240 Seiten
Ullstein Verlag, erschienen März 2010
ISBN-13: 978-3550087851
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