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Beitrag vom 12.09.2008
Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur – herausgegeben von E. Wellbury u.a.
Silvy Pommerenke
Ganz im Geiste Walter Benjamins ist dieses Buch konzipiert. (Literatur)Geschichte sprengt das Kontinuum der Zeit, indem mit einem "Tigersprung" in die Vergangenheit gesetzt wird.
Maßgebliches Ziel der Edition war, nicht zu klassifizieren oder zu normieren. Dafür werden literarische Texte als das gesehen, was sie letztendlich sind: Individualitäten, die in ihrer Dimension eine "Einzigartigkeit und Zufälligkeit" bedeuten.
Über 150 Koryphäen der internationalen Literaturwissenschaft, vorzugsweise aus dem nordamerikanischen Raum, haben mit ihren Essays einen ungewöhnlichen und vor allem wenig kanonischen Blick auf die deutschsprachige Literatur geworfen. Dabei wird die Entstehungsgeschichte weniger bekannter Texte berühmter AutorInnen wiedergegeben, historische Ereignisse werden geschildert, die sich in Prosa oder Lyrik wiederfinden, Lebensumstände der AutorInnen werden beleuchtet oder ausgewählte Textstellen interpretiert.
Maßgebliche HerausgeberInnen sind der renommierte Literaturwissenschaftler David E. Wellbery (Chicago) und Judith Ryan (Harvard), unter den PhilologInnen finden sich beispielsweise Barbara Hahn (Vanderbilt University), die über ihren Forschungsschwerpunkt Rahel Varnhagen philosophiert, Marion Aptroot (Stanford University), die sich vorzugsweise mit jiddischer Literatur beschäftigt, Susan Bernstein (Brown University), die über die Harzwanderung Heinrich Heines berichtet oder Beatrice Hanssen (University of Georgia), die "Die Klavierspielerin" von Elfriede Jelinek im Fokus hat. Das AutorInnenregister liest sich fast wie das Who is Who der deutschen Literaturwissenschaft, die den bedeutsamen Inhalt dieses Literatur-Geschichtsbuches nur noch unterstreicht.
Jedem einzelnen Essay ist ein konkretes Datum vorangestellt, das von einer aussagekräftigen Schlagzeile aufgegriffen wird, so dass das Celan'sche Diktum "Jedes Gedicht ist datierbar" par excelence vorgeführt wird. "Denn jedes Kunstwerk ist datierbar, jedes Stück Literatur aus seinem Zeitkern heraus erklärbar und erzählbar." Angefangen mit dem Jahr 744, in dem Bischof Bonifatius das Kloster Fulda gründete, wird der historische Bogen über das Jahr 1382 gezogen, in dem erstmals jüdische Literatur auftrat, bis hin zu den literarischen Verarbeitungen der traumatischen Erfahrungen während und nach dem Ersten Weltkrieg. Schließlich endet "Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur" in der Gegenwartsliteratur des Jahres 2001, und der frühe Tod W.G. Sebalds wird thematisiert.
Wahrscheinlich konnte dieses großartige und kompakte Werk nur aus der Außensicht entstehen, durch den Blick der "Fremden", die kritisch, vor allem aber wohlgesonnen die deutsche Literatur analysieren und dadurch stellenweise Zusammenhänge aufdecken, die der Blick von "Innen" niemals preisgeben würde. Es bietet sich dadurch sowohl für germanistisches Fachpublikum an, als auch für literaturbegeisterte Laien, die mehr über die deutschsprachige Literatur erfahren wollen. Einziger Nachteil dieses schwergewichtigen (1,8 kg) und nahezu DIN A4 formatigen Wälzers ist, dass es sich nicht als Bettlektüre eignet. Aber dafür ist der Inhalt sowieso zu gehaltvoll.
Weiterlesen: "Deutsche Literaturgeschichte: Von den Anfängen bis zur Gegenwart" und "Deutsche Literaturgeschichte" (12 Bände) herausgegeben u.a. von Ernst und Erika von Borries
AVIVA-Tipp: 1300 Jahre Literaturgeschichte zwischen zwei Buchdeckel zu zwängen, scheint fast aussichtslos zu sein. Den AutorInnen von "Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur" ist nicht nur diese Meisterleistung gelungen, sondern die Art und Weise des Wissenstransfers hebt sich deutlich ab von verstaubten Literaturgeschichten, die mehr zum Weglegen als zum Weiterlesen animieren. Mit diesem dicken Wälzer hat man ein kurzweiliges Lektürebuch, im besten Sinne des Wortes.
Eine Neue Geschichte der deutschen Literatur
Herausgegeben von E. Wellbury u.a.
Berlin University Press, erschienen Herbst 2007
Gebunden, 1.219 Seiten
ISBN: 978-3940432124
64,00 Euro