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AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 30.06.2011


Renate van Kampen - ... fast vergessen. Spuren eines jüdischen Lebens
Marie-Luise Wache

Durch die aufwendige Recherche der Historikerin und Politikwissenschaftlerin konnte das Leben und Werk der Schriftstellerin und Dichterin Thekla Skorra, geb. Gottliebson (1866 bis 1943) ...




... aufgearbeitet werden. Die bedeutendsten Gedichte, Balladen und Essays sowie ein Werkverzeichnis komplettieren das Bild einer erinnerungswürdigen Frau.


Einem Zufall und Renate van Kampens Neugierde ist es zu verdanken, dass die Arbeiten Thekla Skorras, fast siebzig Jahre nach ihrem Tod, wieder an die Öffentlichkeit gelangen konnten. Als die Autorin in einem anderen Zusammenhang über die erste Vorsitzende des deutschen Schriftstellerinnenbundes recherchierte, fiel der Name Thekla Skorra so häufig, dass sie mehr über diese Frau herausfinden wollte. Durch einen Brief der Vorsitzenden Katharina Zitelmann von 1916 wurde dann deutlich, dass es sich bei der ihr noch unbekannten Frau um eine leidenschaftliche, emanzipierte und aufgeklärte jüdische Schriftstellerin handelte. Dieser Umstand verstärkte Renate van Kampens Wunsch, etwas über das Schicksal Thekla Skorras herauszufinden. Besonders beschäftigte sie dabei die Frage, ob und wie die Schriftstellerin das Nazi-Regime überleben konnte.

"Mein Interesse war geweckt, denn ich stamme aus der ersten Nachkriegsgeneration, die sich stets gefragt hat, welche Rolle die Mitglieder der eigenen Familie in dieser Zeit gespielt haben.", so Renate van Kampen in einem Interview mit Julia Siebert, zuständig für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Schlehdorn Verlags.

Die Recherche begann mit der Suche nach Beiträgen in diversen Literaturlexika. Die wenigen Einträge, die über Thekla Skorra zu finden waren, erwiesen sich allerdings als unvollständig und widersprüchlich.
Mit dem Wunsch nach einer chronologisch aufgearbeiteten, wahrheitsgemäßen Lebensgeschichte Thekla Skorras vertiefte sich die Historikerin in eine fast kriminologische Suche nach Anhaltspunkten, die das Leben der jüdischen Schriftstellerin beschreiben könnten.

Die Ergebnisse dieser akribischen Recherchearbeit und ein Teil der Werke von Thekla Skorra wurden im Jahr 2010 im Schlehdorn Verlag veröffentlicht.

Thekla Skorra, die sowohl Mitglied im Allgemeinen Deutschen Schriftstellerverband als auch im Deutschen Schriftstellerinnen-Bund war, verfasste vor allem Gedichte, aber auch Prosa, Essays und Rezensionen. Ihr Leben als Jüdin, Frau und Mutter in einem antisemitisch-aufgeheizten Umfeld regten sie besonders zum Schreiben an. Vor allem publizierte sie in jüdischen Zeitschriften, wie "Ost und West – Illustrierte Monatsschrift für das gesamte Judentum" (1901-1923).
Ihr erster und einziger Gedichtband "Wovon mein Herz sich freigesungen" erschien im Jahr 1905. Obwohl die literarische Qualität in Kritikerkreisen oft bemängelt wurde, fanden ihre schriftstellerischen Erzeugnisse wegen eines besonderen Enthusiasmus´ und Herzbluts dennoch Beachtung. Viele ihrer Gedichte und Auszüge aus "Wovon mein Herz sich freigesungen" wurden zwischen 1906 und 1912 publiziert.

Liest man die Einleitung in einer von Julius Moses herausgegebenen Anthologie "Hebräische Melodien" wird die oft unterschätzte Bedeutung des Werkes Thekla Skorras deutlich. So wolle, wie von Renate van Kampen zitiert, Julius Moses eine Auslese "der besten lyrischen Schöpfungen bieten, in denen Juden ... das Judentum, seine Seelenbewegungen und seine Schicksale zu verschiedenen Zeiten ... besungen." In dem 1907 erschienen Sammelband wurden vier ihrer Gedichte veröffentlicht.

Exemplarisch sind einige der literarischen Werke Thekla Skorras in "...fast vergessen. Spuren eines jüdischen Lebens" an die Geschichte ihres Lebens im Anhang publiziert. Die Arbeiten sind dabei von Renate van Kampen weniger nach der literarischen Qualität als nach der für die Schriftstellerin persönlichen Bedeutung sortiert worden.
Beispielweise wurden drei Prosatexte veröffentlicht, in denen sich die Schriftstellerin mit dem Problem der Assimilation bis hin zur Aufgabe des "Jude-Seins" beschäftigt. Ihre Essays, die besonders das gesellschaftspolitische Engagement beleuchten, sind dem Kampf gegen den Antisemitismus und der zaghaften Revolution eines Mutter- und Frauenbildes geschuldet.
Um ihr Werk außerdem biographisch einzurahmen, wurde eines der ersten bekannten Gedichte und der letzte veröffentlichte Text, die Erzählung vom "Heiligen Wendolin" aufgenommen.

Mit dem 81. Alterstransport wurde die Schriftstellerin am 14. Januar 1943 vom Siechenheim in der Auguststraße 14 – 16 nach Theresienstadt deportiert. Dort wurde sie am 3. Juni 1943 im Alter von 76 Jahren ermordet.

Neben dem Buch "... fast vergessen. Spuren eines jüdischen Lebens" widmete Renate van Kampen der Schriftstellerin außerdem einen Stolperstein, der am 1. Juli 2010 vor dem Gemeindehaus der Kaiser-Wilhelm-Gemeinde in der Lietzenburger Str. 39 in Berlin verlegt wurde.

Im Interview mit Julia Siebert erklärt sie ihre Motivation:

"Ich habe mich für dieses Buch noch einmal intensiv mit Theresienstadt beschäftigt, das hat mich nicht mehr losgelassen. Frau Skorras einziges Kind ist für Deutschland gefallen und sie wird als alte, gebrechliche Frau deportiert. Sie hat nicht einmal ein Grab oder etwas Vergleichbares. Also habe ich diesen Stolperstein als Patin auf den Weg gebracht, als Grabersatz, damit es einen Ort gibt, der an sie erinnert."

Zur Autorin: Renate van Kampen,1941 geboren, ist Studiendirektorin i.R., Historikerin und Politikwissenschaftlerin. Unter dem Namen Fricke-Finkelnburg veröffentlichte sie Beiträge zur NS-Zeit in Sammelbänden und Schulbüchern. 1989 erschien ihre Quellenedition "Nationalsozialismus und Schule". Studien zu deutschen Schriftstellerinnen im 19. und 20. Jahrhundert führten sie auf die Spur von Thekla Skorra.

AVIVA-Tipp: Historisch korrekt werden die aufwendig recherchierten Eckdaten, wie Geburt, Herkunft, Heirat und wechselnde Wohnorte auf den ersten Seiten von Renate van Kampen wiedergegeben. Der Zugang zum Werk und Leben der Schriftstellerin erschließt sich der Leserin allerdings erst, wenn die Historikerin auf die Arbeiten sowie die Motivation Thekla Skorras eingeht. Das schließlich steigert das Interesse für das Werk einer heute weitestgehend unbekannten jüdischen Schriftstellerin und setzt so das Anliegen Renate van Kampens um, ein Schicksal aus dem Sog des Vergessens herauszuziehen.


Renate van Kampen
...fast vergessen. Spuren eines jüdischen Lebens. Thekla Skorra, geb. Gottliebson 1866 - 1943

Schlehdorn Verlag, erschienen 2010
96 Seiten
Taschenbuch mit teilweise farbigen Abbildungen
ISBN 978-3-94-1693-08-1
9,95 Euro

Weitere Informationen zum Stolpersteinprojekt finden Sie unter:

Mit in den Asphalt eingelassenen, schottersteingroßen Gedenktafeln erinnert der Künstler und Bildhauer Gunter Demning seit dem Jahr 2000 europaweit an im Nationalsozialismus vertriebene und ermordete Juden, Zigeuner, politisch Verfolgte, Homosexuelle, Zeugen Jehovas und Euthanasieopfer.
www.stolpersteine.com


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Beitrag vom 30.06.2011

AVIVA-Redaktion