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Beitrag vom 01.02.2011
Christoph Kreutzmüller und Bjoern Weigel - Nissim Zacouto. Jüdischer Wunderknabe und türkischer Teppichgroßhändler
Claire Horst
Der Hentrich & Hentrich Verlag hat sich auf Exilforschung und jüdisches Leben spezialisiert. Mit seiner Miniaturen-Reihe holt er immer wieder fast vergessene jüdische Personen aus der Vergessenheit
Manchmal sind das so berühmte Persönlichkeiten wie die Frauenrechtlerin Jenny Hirsch, der Arzt Magnus Hirschfeld oder der als Landesverräter aus Frankreich deportierte Offizier Alfred Dreyfus.
Dass auch weniger prominente JüdInnen darstellenswert sind, beweist der dieser 93. Band der Reihe. Nissim Zacouto stammte aus einer sephardischen Familie in der Türkei und baute bereits in den 1920er Jahren einen Teppichhandel in Berlin auf. 1939 emigrierte er nach Paris, während der Besatzungszeit musste er auch dort untertauchen.
Sein Sohn Fred, von dem die Einleitung stammt, betont die Intelligenz und die Güte seines Vaters. Das Erscheinen des Bändchens empfindet er als "moralische Anerkennung" der Lebensleistung seines Vater, der nicht nur seinen Besitz an die Nazis, sondern vor allem seine Brüder im Holocaust verloren hat.
Bis zu den Zeiten von Christoph Kolumbus lässt sich die Familiengeschichte der Zacoutos zurückverfolgen. Und nicht nur die Geschichte der Familie, sondern die Geschichte jüdisch-christlich-muslimischen Zusammenlebens zeichnen die Autoren an seinem Beispiel nach. Schliemanns Expeditionen und dessen Schmuggel entdeckter Schätze nach Deutschland, Karl Mays "Indianer"-Bücher, der Bau des Orient-Express - Anfang des 20. Jahrhunderts stand der Orientalismus der Deutschen in voller Blüte. Für Isaac Zacouto, den Vater Nissims und Gründer eine Teppichladens, hatte das nicht nur Nachteile. Sein Teppichhandel profitierte von der europäischen Orient-Begeisterung.
1914 entging der in Deutschland lebende Nissim der Rekrutierung - er wurde wegen seiner geringen Körpergröße ausgemustert, 1922 heiratete er eine Istanbulerin. Zacoutos persönliches Leben und die weltpolitischen Entwicklungen beziehen die Autoren immer aufeinander - der Ausbruch des Ersten Weltkriegs etwa hatte auf den Erfolg der Firma ebenso große Auswirkungen wie auf das Kaiser- und das Osmanische Reich.
Viele im Buch abgedruckte Familienfotos machen das Leben Zacoutos vorstellbar und verdeutlichen ganz nebenbei: Migration nach Deutschland gab es schon immer. Schon 1927 gehörte Zacouto zu den Begründern der "Türkischen Handelskammer für Deutschland", zugleich war er Schatzmeister der Sephardischen Gemeinde Berlins.
Natürlich ging der Nationalsozialismus auch an einem türkischen Staatsbürger nicht spurlos vorbei - der Rufmord antisemitischer Kollegen zeigte als Erstes Spuren. 1938 wurde das Ehepaar schließlich aus der Türkei ausgebürgert und war so dem Deutschen Reich schutzlos ausgeliefert. Die Familie Zacouto wanderte nach Frankreich aus.
Der Kampf ums Überleben im besetzten Frankreich, Verhaftung und Erschießung von Familienangehörigen, Fred Zacoutos Kampf im Spanischen Bürgerkrieg, Nissims mutiger Widerstand gegen die Verfolgung - all das erzählen die Autoren als beispielhafte Lebensgeschichte eines türkischen Juden im nationalsozialistischen Europa.
Beispielhaft für viele sind auch die Geschehnisse nach dem Ende des Nationalsozialismus. Zacoutos Antrag auf Entschädigung wurde über Jahre durch sämtliche bürokratischen Ebenen gelenkt und von denselben Anwälten abgelehnt, die auch während des "Dritten Reichs" verantwortlich gewesen waren. Erst 1957 erhielt er ganze 1.700 DM Entschädigung - er sei ja nicht aus rassistischen Gründen verfolgt gewesen, hatte es bis dahin geheißen. 1960 konnte er noch eine Rente für sich erkämpfen. In Frankreich begann Zacouto ein neues Leben und schaffte es tatsächlich, seinen Teppichhandel noch einmal aufzubauen.
Zu den Autoren: Christoph Kreuzmüller, geboren 1968 in Bad Oeynhausen, koordiniert die Forschungsprojekte Geschichte kleiner und mittlerer jüdischer Gewerbeunternehmen in Berlin (1930/31-1945) und Geschichte der Rückerstattung kleiner und mittlerer jüdischer Gewerbeunternehmen in Berlin in der Nachkriegszeit am Lehrstuhl Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus der Humboldt-Universität zu Berlin.
Bjoern Weigel, geboren 1980 in Berlin, ist Historiker und promoviert am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin über die Vernichtung jüdischer Gewerbetätigkeit in Berliner Theaterunternehmen. (Verlagsinformationen)
AVIVA-Tipp: Die Reihe "Jüdische Miniaturen" zeigt die ganze Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland. Der Band über Nissim Zacouto stellt ein wenig bekanntes Thema vor und ist daher besonders spannend. Unter der ISBN 978-3-942271-12-7 erscheint er auch auf Türkisch. Damit ermöglicht er eine neue Auseinandersetzung mit wenig bekannten Aspekten der türkisch-deutschen Migrationsgeschichte: die Verfolgung türkischer Juden und Jüdinnen.
Christoph Kreutzmüller, Bjoern Weigel
Nissim Zacouto
Jüdischer Wunderknabe und türkischer Teppichgroßhändler
Hentrich & Hentrich Verlag, Reihe "Jüdische Miniaturen", Band 93
64 Seiten, Broschur, 10 Abbildungen
ISBN 978-3-941450-16-5
5,90 Euro
www.hentrichhentrich.de