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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 05.09.2010


Manuele Fior - Fräulein Else
Susann S. Reck

Else fühlt sich von den Eltern erpresst und erscheint nach dem Dinner nackt in der Hotellobby. Manuele Fior gelingt es, mit brillianten Bildern für eine Geschichte von 1924 zu begeistern.




Natürlich kann man sich fragen, warum der 1975 in Italien geborene und in Berlin lebende Illustrator und Architekt Manuele Fior ausgerechnet Arthur Schnitzlers Novelle Fräulein Else für einen Comic adaptiert, scheint doch vor allem der Ausgang der Geschichte nach heutigen Gesichtspunkten ein wenig altmodisch.

Dilemma

Else, eine etwa 20 Jahre alte junge Frau, die als ebenso lebenshungrig wie wählerisch beschrieben wird, erhält während ihres Aufenthalts in einem Schweizer Hotel ein Telegramm. Sie wird darin von ihrer Mutter aufgefordert, einen alten Freund der Familie, der sich auch dort aufhält, um Geld zu bitten. Der Vater droht ansonsten, ins Gefängnis zu wandern und sich aus Scham dort umzubringen. Der Freund, ein "reicher, alter Sack", der Else seit ihrer Kindheit kennt und begehrt, ist auch bereit zu helfen. Allerdings soll sich Else als Gegenleistung für ihn ausziehen.
Was tun? Sich verkaufen oder sich weigern und den Tod des Vaters riskieren?

Skandal

Elses Gedanken und Empfindungen schrauben sich bis zu auswegsloser Verzweiflung hoch. Sie ist wütend, verzweifelt, sie fühlt sich erniedrigt und von allen verlassen. In dieser Stimmung bleibt nur ein Skandal.
Else macht sich abends im Hotel auf die Suche nach dem Lustmolch und als sie ihn findet, lässt sie die Hüllen nicht nur vor ihm sondern auch vor allen anderen Hotelgästen fallen. Allerdings hat sie davor eine Überdosis Schlafmittel genommen und es bleibt am Ende offen ob sie überlebt.

Altmodisch

Elses Dilemma ist noch immer aktuell. Es gibt unzählige Beispiele dafür, dass Menschen mit Sex erpresst werden, weil sie ihren Familien helfen wollen. Aber ist das offene Ende, das Wegdämmern und schlimmstenfalls Sterben von Fräulein Else noch zeitgemäß?
Ãœber 80 Jahre nach dem Erscheinen von Schnitzlers Novelle liest sich dieses mit einem gewissen Ãœberdruss.

Dynamisch

Der Tod in der Schwebe bleibt jedoch das einzig Unbefriedigende in Manuele Fiors Comic- Adaption. Sie ist, abgesehen davon, eine hervorragend umgesetzte Geschichte, die nicht illustriert, sondern Texte und Bilder dynamisch nebeneinander stellt und verwebt und so einen komplexen, inneren Konflikt sichtbar macht.

AVIVA-Tipp: Manuele Fior aquarelliert "Fräulein Else" im Stil der Wiener Sezession und zaubert seine LeserInnen damit in das erste Viertel des letzten Jahrhunderts. Er macht Schnitzlers innovatives Stilmittel des inneren Monologs sichtbar und bebildert das psychologische Kammerspiel mit Tagtraumsequenzen, die Elses psychische Befindlichkeit spiegeln. So wird ein komplexer Konflikt sichtbar gemacht, der verdeutlicht, wie weit Schnitzler, der sich intensiv mit Sigmund Freuds Psychoanalyse auseinander gesetzt hat, seiner Zeit voraus war. Wie auch der Vorlage ist es Manuele Fior gelungen, sich eindrucksvoll in Else einzufühlen und sie in ihren Gedanken- und Empfindungsprozessen zu durchdringen.

Zum Illustrator: Manuele Fior wurde 1975 in Italien geboren. Er ist Architekt und Illustrator und lebt in Berlin. Sein neuester Comic heißt "Fünftausend Kilometer in der Sekunde" und ist ebenfalls im Avant-Verlag erschienen. Weitere Infos und Kontakt: www.manuelefior.com


Manuele Fior
Fräulein Else

Avant-Verlag, erschienen: 2010
www.avant-verlag.de
88 Seiten, vierfarbig, broschiert
ISBN-978-3-939080-43-5
19,95 Euro


Zur Rezensentin: Susann S.Reck ist freie Filmemacherin, Autorin und Dozentin. Sie ist im Allgäu und in Barcelona aufgewachsen, hat in München und Zürich Philosophie und Geschichte und in Potsdam-Babelsberg Filmregie studiert.
Für sie gehören Comics zu den innovativsten Medien der Gegenwart.
Weitere Infos und Kontakt unter: www.susannreck.com




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Beitrag vom 05.09.2010

Susann S. Reck