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Beitrag vom 20.01.2010
Barbara Bongartz - Perlensamt
Adriana Stern
Im Bann des undurchsichtig, geheimnisvollen David Perlensamt, dessen Lebenslauf im Dunklen liegt, sucht der Kunsthistoriker Martin Saunders nach der wahren Herkunft einer bedeutenden ...
... Bildersammlung, die er bei Perlensamt entdeckt.
Der Roman "Perlensamt" spielt innerhalb eines Jahres und wird eingerahmt durch einen Prolog und einen Epilog, die den Angriff auf das World Trade Center im September 2001 beschreiben.
Außer, dass damit der genaue Zeitpunkt der Romanhandlung angegeben wird, hat die Beschreibung des Anschlags nichts mit dem Stoff des Buches zu tun. Und das ist auch schon genau das Problem, das beim Lesen des vorliegenden Romans auftritt.
Es wird zuviel hineingemixt, damit der Plot funktioniert. Die Logik bleibt dabei leider auf der Strecke Einige der Themen sind: Die Geschichte des Kunstraubs während des Nationalsozialismus, die Folgen des Nationalsozialismus für die zweite und dritte Generation, verkorkste Familienbiographien und ihre verheerenden Folgen, das Schweigen der Eltern über den Nationalsozialismus, die Schwierigkeit sexueller Identitätsfindung, die Geschichte von Otto Abetz, des Botschafters von Hitler in Paris, das Verschwinden einer der Wellenbilder von Courbet, die Welt des Kunsthandels, eine komplizierte Krimihandlung und schließlich auch noch der Anschlag auf das World Trade Center. Kein Wunder, dass der Autorin die Logik abhanden kommt.
Die ProtagonistInnen: allen voran Martin Saunders, amerikanischer Kunsthistoriker mit einer deutschen Mutter, die ihr Leben in Schweigen hüllt. Er wurde damit konfrontiert, was es bedeutet, wenn ein Opfer der Nazis ein gestohlenes Gemälde in fremden Händen entdecken muss. Eine von Saunders Aufgaben war es, die Provenienzen von Gemälden zu prüfen und seine Mitarbeiterin Mona bescheinigt ihm "Martini, nicht jeder hat diese Ahnungen - in Provenienzforschung bist du ein Naturtalent." Doch wie kann ein Kunsthistoriker dann eine halbe Seite später sagen: "Mir ist eure verdammte Vergangenheit scheißegal."? Das passt nicht zusammen, wie so vieles in diesem Roman.
Die Figur des Martin Saunders ist ebenso unlogisch gezeichnet wie das Motiv für den Mord an Miriam Perlensamt, der Mutter von David. Fast macht es den Eindruck, als würde diese Figur von der Autorin wie eine leblose Puppe durch die Handlung geschoben und erfüllte dort nur den Zweck, nicht zu reagieren, wenn es spannend werden soll und nur dann zu recherchieren, wenn Informationen für die LeserInnen benötigt werden. Immer wieder stellt Saunders in den entscheidenden Momenten eben nicht die Frage, die auf der Hand liegt (weil die Handlung sonst zu Ende wäre), während er an anderer Stelle nicht lockerlässt (wo die Handlung komplexer und für die Leserin noch verwirrender werden soll.) Die Figur des Martin Saunders scheint ausschließlich für die Romanhandlung konstruiert und lebt deshalb auch nicht.
Auch David Perlensamt ist eine solch konstruierte Figur, wobei sich die Konstruktion hier auf seine, zugegeben, äußerst geschickte und von der Autorin hochspannend beschriebene Verschleierungstaktik bezieht, mit der er David gezielt genau dahin lenkt, wo er ihn hinhaben will: Zu glauben, die Bilder an seinen Wänden entstammten tatsächlich der von Otto Abetz in Paris geraubten Kunstsammlung. Als sich Perlensamt Martin Saunders Interesses an ihm sicher ist, bekennt er sich dazu, der Enkel von Otto Abetz, Ribbentrops Mann im von den Nationalsozialisten besetzten Paris und Erbe seiner zusammengestohlenen Kunstsammlung zu sein. "Unser Familienname ist Abetz. Mein Großvater war Hitlers Botschafter in Paris.", lässt ihn die Autorin sagen.
Warum er David genau davon überzeugen will, wird erst am Schluss des Buches deutlich, womit die Autorin gleichzeitig auch das Motiv für den Mord an Miriam Perlensamt liefert, der nur scheinbaren Mutter von Perlensamt (eine weitere unnötige Komplikation).
Die Mutter von Perlensamt wird bereits im zweiten Kapitel getötet, wie es sich für einen guten Krimi gehört, und dieser Mord, gestanden von Perlensamts Vater, beschäftigt uns im Laufe der vierunddreißig Kapitel ab und zu, steht aber nicht im Vordergrund des Geschehenes.
Dort geht es eher um die Beziehung zwischen Martin Saunders und David Perlensamt, die homoerotisch geprägt ist und voller Widersprüche steckt, und auch um die Verbrechen der Nationalsozialisten in Paris, und immer wieder um das Gemälde "La Vague" von Courbet, das offensichtlich 2004 tatsächlich gestohlen und seitdem unauffindbar ist. Möglicherweise war das der Anlass für die Autorin, diesen Roman zu schreiben.
Die Idee für den Plot ist bemerkenswert und es wäre in der Tat wünschenswert, die fehlende Verarbeitung der Naziverbrechen und die Folgen des Schweigens darüber, vor allem für die dritte Generation, in weiteren Romanen zum Thema zu machen. Es ist zweifellos wichtig, über Raubkunst zu schreiben. Und es ist folgerichtig, einen Krimi daraus zu machen. Es gibt kaum ein Genre, das dafür besser geeignet ist.
Dann hat die Autorin am Ende doch alles richtig gemacht? Leider nein. Die Begründung für den Mord entbehrt jeder Logik und die Wahrheit über die Herkunft der Kunstsammlung würde bedeuten, dass ein Verbrechen, bereits im Kindesalter geplant, erst Jahrzehnte später zur Ausführung kommt. Genau dann, wenn die richtige Zufallsbekanntschaft ins Leben tritt. Sorry, das ist nun wirklich unglaubwürdig.
Dass der Mörder unentdeckt bleibt, der falsche Verdächtige sich selbst umbringt, die Tante schweigt, obwohl sie genau weiß, was abläuft, im Fernsehen öffentlich nach den Eigentümern verschollener Bilder gesucht wird, ohne dass ExpertInnen sich die Bilder vorher ansehen und sie auf ihre Echtheit überprüfen und weitere Ungereimtheiten sind ein bisschen zu wenig Realismus für ein Buch, das immerhin den Anspruch erhebt, geschichtliche Fakten wiederzuspiegeln.
Die Autorin im Netz: www.barbarabongartz.de
AVIVA-Fazit: Schade, dass die Autorin diese brillante Idee und dieses ungeheuer wichtige Thema nicht wirklich umsetzen konnte. Denn der Stoff ist ohne Zweifel gut gewählt und hat es verdient, beschrieben zu werden. Aber wenn die Figuren nicht lebendig werden, der Handlung die Logik fehlt und zu viel an Schauplätzen und Komplikationen hineingepackt wird, muss es nicht verwundern, wenn das Ergebnis enttäuschend ist.
Dabei hat die Autorin gut recherchiert, wartet mit viel Wissen und Kenntnis über Kunstraub, das Geschäft mit dem Kunsthandel, die Geschichte von Otto Abetz auf. Auch die Figur des Perlensamt ist spannend angelegt, nur leider ist auch sein Handeln so unlogisch und unglaubwürdig, dass die Leserin verärgert zurückbleibt.
Zur Autorin: Barbara Bongartz1957 in Köln geboren, Studium u.a. der Theater-, Film- und Fernsehwissenschaften in Paris, München, Köln. Assistentin am Theaterwissenschaftlichen Institut, Universität Köln. 2001 erschien, nach zahlreichen anderen Publikationen, ihr Roman "Die Amerikanische Katze", eine Liebeserklärung an New York, (2007) der autobiografisch geprägte Roman "Der Tote von Passy". Im Herbst 2009 dann "Perlensamt" bei weissbooks.w. Barbara Bongartz lebt als Schriftstellerin in Berlin. (Quelle: Verlag weissbooks.w)
Weitere Veröffentlichungen: Von Caligari zu Hitler – von Hitler zu Dr. Mabuse, Eine psychologische Geschichte des Deutschen Films von 1948-62 (1990). Das Böse möglicherweise, Erzählungen (1994). Stücke fürs Herz, Erzählungen (1995). Eine der Geschichten aus Donner und Sturm, Novelle (1996), Örtliche Leidenschaften-Compilationes, Roman (1996). Der Fall Cordelia Richter, Roman (1999), Schöne Organe, (2000), Die Amerikanische Katze, Roman (2001), Inzest oder Die Entstehung der Welt, Roman in Briefen von Barbara Bongartz und Alban Nikolai Herbst, (2002). Auszeichnungen: Förderpreis und Arbeitsstipendium der Stadt Düsseldorf 1998. Akademie Schloß Solitude 1999/2000. Arbeitsstipendium Künstlerhaus Lucas, Ahrenshoop 2001.
Barbara Bongartz
Perlensamt
Verlag: weissbooks.w, erschienen 17.08.2009
Gebundene Ausgabe: 320 Seiten
ISBN-13: 978-3940888433
19,80 Euro
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"Bilder eines Vaters" von Christiane Kohl
"Verlorene Bilder, verlorene Leben" von Melissa Müller und Monika Tatzkow