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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.12.2009


Alexandra Senfft - Fremder Feind, so nah
Adriana Stern

Ein mutiges Buch, in dem die Autorin mit Palästinensern und Israelis gemeinsam um den Frieden in Palästina und Israel ringt, deren Grundlage nur ein gleichberechtigter Dialog beider Seiten sein kann




Auf mehr als 300 Seiten vermittelt die Autorin Alexandra Senfft mit Sachkenntnis und unerschütterlicher Beharrlichkeit und anhand konkreter Beispiele die Botschaft: "Nur ein wirklicher Dialog beider Seiten, der auf Gleichberechtigung, Offenheit und Vertrauen basiert, kann einen dauerhaften Frieden für Palästinenser und Israelis garantieren."

Viele PalästinenserInnen und Israelis haben diese Wahrheit schon lange erkannt und seit mehr als 30 Jahren verschiedene Friedensinitiativen gegründet, um den Dialog auf Augenhöhe zu führen. Von ihnen sind allein 120 Organisationen im Netzwerk des "Peres Center" zusammengeschlossen, 50 davon palästinensische, 70 israelische Gruppen. Sie haben unterschiedliche Schwerpunkte, doch gemeinsam ist allen das Ziel, Frieden zu schaffen und ihn dauerhaft zu erhalten.

Ron Pudak, einer der Schlüsselfiguren im Oslo-Friedensprozess bemerkt:"70 bis 80 Prozent der Israelis und Palästinenser kennen die Lösungen für den Konflikt – die Siedlungen, Jerusalem, die Flüchtlingsfrage, Sicherheit. Im Grunde genommen gibt es heute mehr Einigkeit denn je, bei den Differenzen handelt es sich nur noch um Nuancen."

Wenn die Lösungen so offensichtlich sind, was verhindert dann den dauerhaften Frieden in Palästina/Israel?
Die Autorin bringt uns wesentliche Antworten in diesem Buch nah.

Grundlegende Vorraussetzung für einen Dialog auf Augenhöhe ist die Bereitschaft, die eigenen inneren Hindernisse in sich selbst wahrzunehmen und sie zu überwinden. Aber wie lässt sich Empathie für die Gegenseite entwickeln, wenn die eigene Geschichte von Leid und Traumata noch nicht bearbeitet und überwunden ist? Leid und Traumata haben beide Seiten erfahren. Jüdinnen und Juden durch den immer wieder auflodernden Antisemitismus in der Diaspora bis hin zur Shoa, PalästinenserInnen durch Vertreibung, Besatzung und Krieg.

"Welchen Einfluss hat die fortdauernde Besatzung auf palästinensische Kinder? Wie verändert sich die Seele eines jüdischen Kindes unter der ständigen Bedrohung von Terroranschlägen?" fragt Uri Bloch, der eine dreijährige Trainerausbildung bei Dan Bar-On absolviert hat, um zur Dialogarbeit beizutragen. Mögliche Auswirkungen beschreibt Ayelet Robinson, israelische Schauspielerin in dem Theaterstück Dritte Generation, entwickelt von Palästinensern, Israelis und nichtjüdischen Deutschen, folgendermaßen: "Das ist fast vergleichbar mit einem Depressiven, der innerlich so mit seinem eigenen Kummer beschäftigt ist, dass er vor Düsternis die Welt um sich herum nicht wahrnehmen und keine alternativen Perspektiven entwickeln könne."

Dan Bar On, dem dieses Buch gewidmet ist, hat die Methode des Storytellings entwickelt. "Storytelling" erhöht die Bereitschaft, "Anteile des eigenen Ich im Anderen zu erkennen, also auch im Feind, der daraufhin gar nicht mehr so fremd erscheint."
Diese Methode wird erfolgreich in vielen der palästinensisch/ israelischen Friedensprojekte angewandt. Wichtig zu begreifen ist, dass wer sich nur für eine Seite entscheidet, den Krieg rechtfertigt.

Genauso wichtig wie die Anerkennung der Palästinenser auf das Recht eines eigenen Staats für Juden, ist die Erkenntnis der Juden, "dass die Palästinenser grundsätzlich nichts falsch gemacht haben. Sie waren lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort" wie es Tony Klug, Koryphäe des jüdisch-palästinensischen Dialogs, erklärt.
Der Palästinenser Ziad Abu Zayyad, Rechtsanwalt und Journalist, sowie mit der PLO-Fraktion Fatah verbunden, macht deutlich, wie leicht der Dialog und jegliche Friedensbemühungen von beiden Seiten durch beide Seiten zerstört werden kann.
"Ein Selbstmordanschlag oder eine neue Siedlung kann die Erfolge von Jahrzehnten des Dialogs zunichte machen."

Khaled Abu Awwad, Direktor von der 2006 gegründeten Organisation Al Tariq, die sich für Entwicklung und Demokratie in der palästinensischen Gesellschaft einsetzt, bekräftigt dies "Es bedarf vieler Menschen, um Frieden zu schaffen, aber eine einzige Person allein kann durch Gewalt die Vereinbarungen zwischen politischen Führern im Nu zunichte machen."
Ron Pundak stellt fest: "Der größte Fehler der israelischen Politik war, die bereits getroffenen Vereinbarungen nicht umzusetzen. Dies gilt besonders für die Siedlungen. Auf palästinensischer Seite waren es vor allem die Zweite Intifada und die Terroranschläge. Israel wiederum hat überproportional hart auf die Gewalt reagiert. "Diese Entwicklung hat beide Seiten in den Extremismus getrieben."

Der besondere Verdienst der Autorin ist die Klarstellung, dass jeder Vergleich des Handelns israelischer Politik im palästinensisch/israelischen Konflikt mit den Methoden aus Auschwitz unhaltbar ist. Der israelische Soziologe und Historiker Moshe Zuckermann dazu: "Wie entsetzlich auch immer die Realität der israelischen Okkupation sein mag, praktizieren die Israelis keine industrielle, bürokratisch geplante und administrativ vollstreckte Vernichtung des palästinensischen Volkes.

Oder, um Dan Bar-On noch einmal zu Wort kommen zu lassen: "Der palästinensisch-israelische Konflikt ist aktuell und von alltäglicher Brisanz, und wer Opfer oder Täter ist, ist nicht geklärt – jeder hält sich für das Opfer und den anderen für den Täter.

Das vorliegende Buch berührt auch durch die sehr persönlichen Geschichten, Gedanken, innersten Gefühle und Überzeugungen von Palästinensern und Israelis gleichermaßen, die das Handeln, Fühlen und Begreifen beider Seiten in diesem Konflikt erklärt.

AVIVA-Tipp: Alexandra Senfft, während des Schreibens offenbar selbst im work in progess begriffen, braucht bis zur Mitte des Buches, um selbst wirklich beide Seiten gleichermaßen anzuerkennen. Davor steht sie voll und ganz hinter der palästinensischen Seite und bleibt der israelischen gegenüber kritisch, zum Teil urteilt sie sogar abwertend. Dann aber gelingt ihr die Wende und ihr Bericht lässt die Leserin nicht mehr los. Niemand, der dieses Buch bis zum Ende liest, wird sich ihrem eindringlichen Plädoyer für den zwingend notwendigen, gleichberechtigten Dialog, der harte Arbeit bedeutet und schmerzhaft, wahrhaftig, erhebend, ermutigend, beängstigend und befreiend zugleich ist, entziehen können.

Zur Autorin: Alexandra Senfft geboren 1961, hat Islamwissenschaft studiert. Sie war Nahostreferentin der Fraktion Die Grünen im Bundestag und UN-Mitarbeiterin in der Westbank und im Gazastreifen. In Israel arbeitete sie als Gutachterin von Dialogprojekten. Alexandra Senfft war fünf Jahre Vorstandsmitglied des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten (diAk).
Sie arbeitete eng mit dem verstorbenen israelischen Psychologen Dan Bar-On zusammen, zuletzt von 2006 bis 2008 in dem Trainingsprogramm "Storytelling in Conflicts" der Körber-Stiftung. Von ihm lernte sie den biographischen Ansatz zur Konfliktlösung.
2007 erschien ihr Buch "Schweigen tut weh"(Claassen und List), wofür sie sie mit dem Deutschen Biographiepreis 2008 ausgezeichnet wurde. Mit John Bunzl hat sie den Band "Zwischen Antisemitismus und Islamophobie" (2008) herausgegeben. Alexandra Senfft war TV-Reporterin und Redakteurin und schreibt seit 1991 für namhafte Zeitungen und politische Zeitschriften.
Weitere Infos und Kontakt unter: www.alexandra-senfft.de
(Quelle: edition Körber-Stiftung)

Zum Fotografen: Judah Passow fotografiert seit 1978 für Zeitungen und Zeitschriften in Europa und Amerika. Seine Aufnahmen wurden u.a. in London, Amsterdam, Paris, Tel Aviv, Washington und New York ausgestellt, für sein Werk erhielt er viermal den World Press Photo Award. Für das Buch "Fremder Feind, so nah" hat er die Portraitaufnahmen gemacht. Es sind insgesamt 20 Fotografien für diesen Band entstanden. (Quelle: edition Körber-Stiftung)

Alexandra Senfft
Fremder Feind, so nah

Verlag: edition Körber- Stiftung, erschienen November 2009
336 Seiten mit 23 s/w-Fotografien von Judah Passow
Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-89684-075-2
20,00 Euro
www.koerber-stiftung.de

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Beitrag vom 04.12.2009

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