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Beitrag vom 27.10.2009
Irina Liebmann - Stille Mitte von Berlin
Claire Horst
BerlinbesucherInnen aus aller Welt kennen die Gegend um den Hackeschen Markt als überteuertes TouristInnenviertel. Bewohnt oder gar verwohnt sieht hier nichts mehr aus. Anfang der 1980er Jahre ...
... war das noch anders.
Die Schriftstellerin Irina Liebmann, die in dem Gebiet wohnte, hielt damals ihre Eindrücke mit der Kamera fest. Geplant war ein Buch über die Gegend zwischen Friedrichstraße und Alexanderplatz, damals ein reines Wohnviertel. Auf der Suche nach der Geschichte der Häuser – woher stammt die Wandaufschrift "Franz Pretzel – Maschinen Treibriemenfabrik"?, wer wohnte in den vierziger Jahren gegenüber dem jüdischen Altersheim, in dem ein Sammellager für JüdInnen eingerichtet wurde? Was haben die AnwohnerInnen mitangesehen und wie denken sie heute darüber? – sprach Liebmann vor allem mit älteren Frauen, die seit Jahrzehnten im Bezirk lebten.
Sie kommen hier zu Wort. Für "historisch", also aufschreibenswert, halten die meisten von ihnen ihre Erinnerungen nicht. Über die jüdischen Bekannten etwa, die irgendwann verschwanden, sprechen die meisten ungern – und trotzdem haben sie darüber viel zu erzählen. "...und dann weiß sie nicht, wo die geblieben sind. Wieso man sich denn aus den Augen verloren hat. Oder sie sagt einfach: Ja, waren Juden. Oder: solche Leute waren auf einmal weg. Oder sie weiß etwas über diese Leute, wie es ihnen ergangen ist. Oder es fällt ihr, zum Thema passend, auf einmal eine Szene ein, mit ganz anderen Juden vielleicht, und das ist dann jedes Mal etwas viel Schlimmeres."
Nach solchen Gesprächen wird Liebmann meist abgewiesen, entweder von der Frau, die zuviel gesagt hat, oder von ihren Kindern. Zu DDR-Zeiten fehlte das "Verbindungsstück" zur Vergangenheit: "Die Menschen wussten kaum etwas über die Menschen, die vor ihnen hier zu Hause waren, nichts über die leer gebombten Flächen mitten in Berlin, die Fabrikgebäude auf den Höfen."
Auch in Archiven und Bibliotheken forscht Liebmann nach verlorenen Spuren. Dabei reflektiert sie immer wieder ihre eigene Motivation. Warum interessiert sie sich überhaupt für die Geschichte? Warum sitzt sie tagelang in staubigen Archiven, um einem verfallenden Haus nachzuforschen? "Was war das? Unnützes Wissen, Luftblasen der Luftblasen, versunkene Welten, aus den Depots des Stadtarchivs in den Benutzerraum rausgeschoben auf einer Karre mit Gummirädern, auch das erinnerte an Krankenhaus, an Verletzte und Operationen, und trotzdem – ich war begeistert." Das Leben rund um den Hackeschen Markt Mitte des 19. Jahrhunderts ersteht ebenso wieder auf wie das der 1980er Jahre des 20. Jahrhunderts – Revolution, Arbeitervereine und die "Urwählerzeitung" stehen gleichberechtigt neben der Friedensbewegung in der DDR und dem Treffen von Honecker und Schmidt.
So spannend Liebmanns lebendige Nacherzählung der Geschichte ist, so merkwürdig erscheinen einige der vermeintlichen Parallelen zwischen den verschiedenen Zeitebenen. Dass in der Zeit des Nationalsozialismus ähnlich wie in der DDR kurz vor der Wende ein Gefühl der herannahenden Katastrophe geherrscht haben soll, mag sein. Liebmanns Vergleich der heruntergekommenen Gebäude zu DDR-Zeiten mit den Folgen des 11. Septembers ist allerdings nicht überzeugend. Die Erstausgabe des Buches erschien 2002, unter dem unmittelbaren Eindruck des 11. Septembers. "Seit dem Angriff auf die Vereinigten Staaten von Amerika ist die Zerstörung [...] wieder näher gerückt, und man sieht diese Bilder mit anderen Augen. Wie schnell ist Zivilisation zerstört! Wie lange dauert es, sie aufzubauen! In New York wurde ein Stück von unserer funkelnden Zeit verbrannt. Seitdem ist überall in der Welt eine Beunruhigung spürbar. Beginnt nun etwas Neues? Und wenn ja – wie lässt es sich zum Guten wenden? Oder werden wieder einmal die Lichter ausgehen?"
AVIVA-Tipp: Wunderbar zu lesen sind die Gespräche der Autorin mit den Anwohnerinnen, die im Berliner Dialekt ihre Erinnerungen teilen. Ebenso spannend gestalten sich die Ergebnisse der Archivsuche. Tatsächlich werden die Häuser, die Liebmann fotografiert hat, so zum Leben erweckt. Wer sich an Ost-Berlin vor der Wende erinnert, wird auf den Bildern eine untergegangene Welt wiederfinden. Zur politischen Einordnung der Ereignisse kann man dagegen unterschiedlicher Meinung sein.
Zu der Autorin: Irina Liebmann geboren 1943 in Moskau als Tochter der russischen Germanistin Valentina Herrnstadt und des deutschen Journalisten Rudolf Herrnstadt (über den sie das Buch "Wäre es schön? Es wäre schön" geschrieben hat), studierte Sinologie in Leipzig. Von 1966 bis 1975 arbeitete sie als Redakteurin für die Zeitschrift "Deutsche Außenpolitik". Seit 1975 lebt sie als freie Schriftstellerin in Ost-, seit 1988 in Westberlin. Für ihre Bücher erhielt sie zahlreiche Preise, u. a. den Aspekte-Literaturpreis und den Berliner Literaturpreis. (Verlagsinformationen)
Irina Liebmann: Stille Mitte von Berlin. Eine fotografische Spurensuche rund um den Hackeschen Markt.
Berlin Verlag, Erscheinungstermin: 3. Oktober 2009
Etwa 112 Seiten
Gebunden
ISBN-13: 9783827008770
18,00 Euro
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