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Beitrag vom 09.05.2009
Der Gräfin zum 100. - Alice Schwarzer und Dieter Buhl
Kristina Tencic
Das diesjährige Jubiläum der ehemaligen Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff gibt Anlass, sich dieser einzigartigen Frau zu widmen. Hier ein Vergleich zweier der porträtierenden Bücher, bevor...
... die Welle der Rückblicke auf ein bewegendes und bewegtes Leben im Spätjahr 2009 einsetzt.
Am wohlsten fühlte sie sich als einzige Frau unter zwanzig Männern, ohne auch nur im geringsten daran zu zweifeln, dass sie da hingehörte, denn sie war "one of the boys". Auf diese Weise wird die 2002 verstorbene Gräfin durchweg von allen Bekannten, FreundInnen und Verwandten beschrieben, welche in Alice Schwarzers Dönhoff-Biografie und Dieter Buhls Interviewsammlung zu Wort kommen.
Schon früh zeichnete sich ab, dass die am 2. Dezember 1909 auf einem der prachtvollsten ostpreußischen Gutshöfe, Schloss Friedrichstein, geborene Marion Dönhoff ein Idol des Feminismus werden würde, selbst wenn sie sich selbst nie als ein solches bezeichnet hätte. Als einzige der Frauen aus der kinderreichen Familie studierte sie, promovierte und versorgte Schloss Friedrichstein und Gut Quittainen während des Zweiten Weltkrieges. Darüber hinaus schloss sie sich den WiderständlerInnen um Graf Stauffenberg an - wobei dies unter HistorikerInnen umstritten ist.
Nach der Flucht vor den herannahenden sowjetischen Streitkräften kam die weltgewandte junge Frau nach Hamburg, wo ihr Talent für das journalistische Schreiben und klare Analysieren bei der 1946 gegründeten Wochenzeitung "Die Zeit" sofort Verwendung fand. Ihre Spezialität, die Leitartikel und Kommentare, waren geprägt von Mut, glasklarem Verstand und sachlichem Intellekt. Einen Überblick über die journalistischen Meilensteine der "Geburtshelferin der Ostpolitik" gibt Alice Schwarzer mit dem Abdruck einiger Artikel der Gräfin.
Die alte Dame des Feminismus blickt auf Marion Dönhoff, mit der sie sich im Zuge der Recherche zu diesem bereits 1996 erstmals erschienenen Buches häufig getroffen hat, selbstverständlich von einem gender-fokussierten Standpunkt aus. Doch man merkt schnell, dass dies ganz und gar nicht der zu vermutende gemeinsame Nenner der beiden Koryphäen ist. Marion Gräfin Dönhoff hat sich schlichtweg nicht um den "Weiberkram" gekümmert und war somit im Grunde genommen feministisch erfolgreicher als die Vorkämpferinnen selbst, da sie bereits alles erreicht hatte, während die anderen noch darüber diskutierten. Alice Schwarzer bezeichnet sie als Frau, die "die Chuzpe hatte, so zu tun, als sei sie gar keine".
Der langjährige Mitarbeiter Dönhoffs und politische Redakteur der "Zeit" Dieter Buhl betrachtet die Gräfin hingegen aus einer persönlicheren, indes gleichzeitig politischen Perspektive. Er befragte Vertraute Dönhoffs, Mitglieder der Familie, aber auch berühmte Persönlichkeiten der Zeitgeschichte wie etwa Richard von Weizsäcker, Hildegard Hamm-Brücher und Henry Kissinger zu ihrem Sein und Wirken. So kommen einige interessante Details und Widersprüche ans Licht, welche Alice Schwarzer nicht einfangen konnte, beispielsweise, dass Marion Dönhoff in ihrer Anfangszeit in Hamburg Gespenster sah, was aber wohl auf ihre Dehydrierung und Mangelernährung zurückzuführen ist. Auch die von der Gräfin penibel umgangenen Fragen zu ihrem Liebesleben hat Dieter Buhl nicht ausgespart, wobei er, trotz vieler Geschichten aus dem Nähkästchen, keine enthüllenden Entdeckungen machte.
AVIVA-Tipp: Die Betrachtungen einer der wichtigsten moralischen Instanzen Nachkriegsdeutschlands durch die zwei renommierten JournalistInnen Schwarzer und Buhl können als ein Einführungs- und ein Vertiefungswerk verstanden werden. Hierbei ist Schwarzers "Marion Dönhoff – Ein widerständiges Leben" das Einführungswerk, da es sehr umfassend Dönhoffs Biographie wiedergibt und in journalistischer Manier ihr Leben und dessen Zusammenhänge hinterfragt. Dieter Buhls "Marion Gräfin Dönhoff: Wie Freunde und Weggefährten sie erlebten" ist wiederum zur vertiefenden Lektüre geeignet, da er nicht nur den Charakter Dönhoffs weiter beleuchtet und Anekdoten aus den Befragten herauskitzelt, sondern auch den politisch-kulturellen Kontext untersucht. Wer sich jedoch noch nicht mit der Gräfin auseinandergesetzt hat, wird keinesfalls einen leichten Einstieg in das Buch finden. Eines bleibt jedoch gewiss: Sich mit der inspirierenden Persönlichkeit Dönhoffs zu beschäftigen, ist nicht nur aufgrund des heranrückenden Jubiläums Pflicht, sondern trägt auch zu einem umfassenderen Verständnis deutscher Geschichte bei und macht obendrein Freude.
Zur Autorin: Alice Schwarzer wurde 1942 geboren und arbeitet als Journalistin und Essayistin. Jeder/m Deutschen bekannt ist sie als Schlüsselfigur des erwachenden Feminismus in den 60er Jahren. Seit 1971 zählt sie auch zu einer der erfolgreichsten Buchautorinnen Deutschlands, wovon die vielen Übersetzungen in andere Sprachen zeugen.
Zum Herausgeber: Dieter Buhl war über dreißig Jahre lang politischer Redakteur der "Zeit" und enger Mitarbeiter Marion Dönhoffs. Außerdem war er Stipendiat des amerikanischen World Press Institute und wurde mit dem Theodor-Wolff-Preis ausgezeichnet.
Marion Dönhoff – Ein widerständiges Leben
Alice Schwarzer
Verlag Kiepenheuer & Witsch, 1996, 1. Auflage 2008
Paperback, 363 Seiten
ISBN: 978-3-462-04056-2
8,95 Euro
Marion Gräfin Dönhoff: Wie Freunde und Weggefährten sie erlebten
Dieter Buhl (Hg.)
btb Verlag, Taschenbuchausgabe Oktober 2008
Paperback, 409 Seiten
ISBN: 978-3-442-73737-6
10,00 Euro
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