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Beitrag vom 19.02.2009
Caroline Thompson - Die Tyrannei der Liebe
Britta Leudolph
Die Liebe ist ein starkes jedoch ambivalentes Gefühl, das so schnell es aufkommt auch wieder verschwinden kann. Reicht es aus, die Beziehung zum eigenen Kind auf diesem Fundament aufzubauen?
Die Betrachtung der Kindheit als einzigartigen Lebensabschnitt ist in der Menschheitsgeschichte noch relativ jung, ebenso die emotionale Bindung der Eltern an ihre Kinder. So wurde es erst Ende des 18. Jahrhunderts üblich, dass Mütter ihre Kinder selbst stillten und nicht wie zuvor von Ammen versorgen ließen. Durch diesen Wandel - dem eine Syphilisepidemie voraus ging, infolgedessen weniger Ammen zur Verfügung standen - und die neue gemeinsame Zeit mit den Kindern, begannen Frauen, mütterliche Gefühle für ihre Sprösslinge zu entwickeln. Hier zeigt sich, "[...] dass das Muttergefühl nicht etwas Instinktives ist, sondern eine allmähliche Konstruktion, Frucht einer historischen Evolution, die eng mit den Sitten und den Lebensbedingungen verknüpft ist."
Das Organisationsprinzip der traditionellen Familie, die väterliche Autorität, wurde erst im Zuge der 1968-Bewegung hinterfragt und allmählich abgelöst. Die Liebe ist nach und nach zum Fundament der Familie geworden, was in emotionaler Hinsicht ein echter Fortschritt ist.
Doch reicht Liebe allein als Basis für eine Beziehung zwischen Eltern und Kindern? Caroline Thompson bestreitet dies vor dem Hintergrund ihrer psychoanalytischen Erfahrung. "Alles auf die Liebe zu setzen heißt, dass wir ein Damoklesschwert zwischen Eltern und Kindern schweben lassen. Was passiert, wenn man sich als unwürdig erweist? Wenn man zu sehr liebt? Oder schlecht? Oder zu wenig? Es scheint dringend geboten, die Ambivalenz der Liebe anzuerkennen und zu akzeptieren, dass ihre Idealisierung eine Form von Gewalt ist. Ein vergängliches Gefühl kann eindeutig nicht das einzige Band zwischen Eltern und Kindern sein."
Thompson fordert nicht die Rückkehr zu einem autoritären Erziehungsstil. Vielmehr geht es ihr darum, Kindern einen Rahmen zu geben, innerhalb dessen sie sich entwickeln können.
Zudem identifiziert die Psychoanalytikerin die vordergründig bedingungslose Liebe der Eltern als Fallstrick, denn sie verlangen dafür nicht weniger als bedingungslos wiedergeliebt zu werden. Von Kindern wird erwartet, "[...] in der Schule erfolgreich zu sein, künstlerische Begabungen an den Tag zu legen, soziale Fähigkeiten zu zeigen, unabhängig zu werden – aber nicht zu sehr-, sie sollen ausgeglichen sein und Freude am Leben haben. Wir wollen nur ihr Glück, aber unter der Bedingung, dass sie uns ein befriedigendes Bild von uns selbst widerspiegeln." Auf diese Weise wird das Kind zum narzisstischen Objekt, das den Eltern einen Wert verleiht. Scheitert das Kind, erleben Eltern dies als persönliches Scheitern.
Ihre theoretischen Annahmen ergänzt die Autorin mit vielen anschaulichen Beispielen aus ihrer psychoanalytischen Arbeit als Familientherapeutin. Das Buch enthält zudem einen historischen Überblick über den Wandel der Familienstruktur sowie des Begriffes der Liebe im Laufe der zurückliegenden Jahrhunderte.
Zur Autorin: Caroline Thompson arbeitet als Psychoanalytikerin in der psychiatrischen Klinik am Hopital de la Pitié-Salpetrière in Paris sowie als selbständige Familientherapeutin.
AVIVA-Tipp: Caroline Thompson liefert eine scharfsinnige, schonungslose Analyse der heute vorherrschenden Eltern-Kind-Beziehung ab. Diese enthält jedoch auch eine beruhigende Botschaft: perfekte Eltern gibt es nicht und die perfekte Erziehung erst recht nicht. Indem sich Eltern dem Druck entziehen, alles richtig zu machen, können sie eine ehrliche Beziehung zu ihren Kindern aufbauen und erlauben ihnen, aus Fehlern zu lernen und zu einer eigenständigen Persönlichkeit heran zu reifen. "Die Tyrannei der Liebe" ist kein platter Erziehungsratgeber, sondern ermutigt, das eigene Verhalten zu reflektieren und die Beziehung zu den Kindern offener und entspannter zu gestalten.
Caroline Thompson
Die Tyrannei der Liebe. Wenn Eltern zu sehr lieben: Perfekte Erziehung und die Ambivalenz der Gefühle
Originaltitel: La violence de l´amour
Aus dem Französischen von Ursel Schäfer
Kunstmann Verlag, erschienen September 2008
Gebunden, 192 Seiten
ISBN 978-3-88897-528-8
16,90 Euro
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