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Beitrag vom 20.12.2022
Carolin Würfel – Drei Frauen träumten vom Sozialismus – Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf
Silvy Pommerenke
Die Autorin und Journalistin Carolin Würfel nimmt sich den drei Urgesteinen der ostdeutschen Literaturszene an, Maxie Wander, Brigitte Reimann und Christa Wolf. Auch wenn sie als Persönlichkeiten unterschiedlich waren, so hatten alle einen gemeinsamen Traum: den idealisierten Sozialismus. Die Geschichte hat gezeigt, dass es nur beim Traum geblieben ist.
Kurz und pointiert umreißt Carolin Würfel die Biografien der drei Autorinnen. Sie schafft es gekonnt, die Lebensgeschichten der drei Schriftstellerinnen auf das Wesentliche zu fokussieren. Die Aussagekraft ist dennoch enorm, wie sich beispielsweise an der Darstellung der Erkrankung von Brigitte Reimann erkennen lässt: "Anfang Dezember erwischt es schließlich sie selbst. Spinale Kinderlähmung. Krankenhaus. Isolierstation. Einzelzimmer."
Kein Wort zu viel, und gerade deswegen tief unter die Haut gehend. Die Wochen im Krankenhaus erträgt Reimann nur lesend, woraus ihr Berufswunsch geboren wird: sie will hauptberuflich Schriftstellerin werden. Auch Christa Wolf hat als junges Mädchen auf dem Krankenlager mit dem Schreiben angefangen. Es sollte sich durch ihr weiteres Leben ziehen, dass sie, immer wenn ihr etwas zuviel wurde, psychosomatisch reagierte.
Die Flucht vor der Welt
Was alle drei Autorinnen miteinander verband, war das Lesen und damit einhergehend die Flucht vor der Welt. Aus unterschiedlichen Gründen allerdings. Für Christa Wolf und Brigitte Reimann war Anna Seghers - vor allem deren Roman "Das siebte Kreuz" - eine prägende Begegnung mit der Literatur.
So zeichnet Carolin Würfel bei allen drei Frauen nach, wie sie ihrer Berufung folgten, Autorin zu werden. Auch wenn das bei jeder einzelnen auf unterschiedliche Art und Weise vonstattenging. Auch zeigt sie auf, wie aus ihnen überzeugte Sozialistinnen geworden sind. Im Falle Christa Wolfs, um sich scharf gegen den Nationalsozialismus zu wenden, dem sie noch ein paar Jahre zuvor ideologisch treu ergeben war. Ganz anders als die Österreicherin Maxie Wander, gebürtige Elfriede Brunner, die in einem kommunistischen Elternhaus mit jüdischen Wurzeln aufwuchs und mit Widerstand, Verfolgung und Deportation konfrontiert war.
Die ersten Schritte in den Literaturbetrieb
Nachdem Reimann ihre die Kinderlähmung mehr oder weniger gut überstanden hatte, startete sie literarisch und politisch durch: sie erhielt erste Auszeichnungen für Theaterstücke, engagierte sich stark in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) und fing mit der Arbeit an ihrem ersten Roman an ("Die Frau am Pranger"). Christa Wolf verdiente sich ihre ersten schreiberischen Sporen, indem sie ideologische Buchkritiken bzw. Verrisse schrieb, wovon sie sich später distanzierte. Maxie Wander siedelte von Wien in die DDR um, in das gelobte sozialistische Land und tauchte tief in die Literaturszene ein. Katalysator für das schreibende Volk war das Heim "Friedrich Wolf", das 1955 vom Schriftsteller*innenverband gegründet wurde. Dort, im brandenburgischen Petzow, trafen sich auch die drei Frauen Brigitte, Christa und Maxie. Zwar führten Brigitte Reimann und Maxie Wander jeweils unabhängig zu Christa Wolf eine enge Freundschaft, aber die beiden konnten anscheinend zueinander keine freundschaftliche Bindung aufbauen.
Der Traum vom Sozialismus bröckelt
Die Sprache von Carolin Würfel ist mitreißend und poetisch. Auch, wie sie die drei Autorinnen in Bezug zueinander stellt, wie sie Verbindungen zwischen ihnen zieht und wie sie von scheinbar leichter Hand komplexe politische und autobiographische Hintergründe zu Papier bringt, ist beeindruckend. Und sie behält sich ein kritisches Auge, wenn sie die Idee des Sozialismus, denen die drei Autorinnen glühend anhingen, in Frage stellt: "Der Kampf für den Sozialismus, die Arbeiterklasse und die DDR ließ sich mit Feuer beschreiben und bereden, die Ideale umzusetzen, in wahres Leben zu überführen, das war eine andere Geschichte."
Das kritische Auge hatten bald auch Maxie Wander, Brigitte Reimann und Christa Wolf. Das Beschneiden ihrer Freiheit wurde ihnen schmerzlich bewusst, sowohl durch die Zensur als auch durch das Reiseverbot. "Für Christa Wolf ging dieser Sozialismus in eine falsche Richtung. Da gab es nichts zu beschönigen." Unter anderem war es der Prager Frühling, der alle drei Frauen zum Umdenken brachte. Bei Christa Wolf sorgte das anfängliche Veröffentlichungsverbot von "Nachdenken über Christa T." zu einem Abwenden von der DDR-Führung, wenngleich sie wie auch die beiden anderen Autorinnen weiterhin an der Idee des Sozialismus´ festhielten.
Brigitte Reimann legt ihrer Romanheldin Franziska Linkerhand ihre eigenen Zweifel in den Mund: "Weißt Du, was ich heute darüber denke? Wir mussten uns selbst immer wieder bestätigen, dass wir richtig gewählt hatten, dass wir übergelaufen waren in die schönste aller Welten – sie musste vollkommen sein, wir durften uns nicht geirrt haben."
Und auch Maxie Wander ist nach fünfzehn Jahren in der DDR enttäuscht, in der sie zwar nie wirklich Wurzeln schlagen, von der sie aber auch nicht loslassen konnte: "Wir müssen uns von der utopischen Vorstellung befreien, dass die Beschäftigung mit dem Marxismus automatisch die Menschen reinigt und bessert." Zur Ikone der DDR wurde Maxie Wander dennoch, denn ihr Buch "Guten Morgen, Du Schöne!", das 1977 kurz vor ihrem Tod erschien, wurde zum Kassenschlager. Christa Wolf wird zu ihrer Beerdigung sagen: "Sie hat sich mit den Gegebenheiten nicht abgefunden, hat sich der Spannung ausgesetzt zwischen dem, was wir heute sein können, und dem, was wir morgen sein wollen, um zu überleben." Christa Wolf überlebte ihre beiden Freundinnen und begab sich in eine innere Emigration, um dem Alltag und den Repressalien der DDR zu entfliehen: "Ich frage mich, welchen Preis ich täglich unbewusst zahle, einen Preis in der Münze: Wegsehen, weghören oder zumindest: schweigen. Ich denke oft, ob die Rechnung dafür uns noch zu unseren Lebzeiten präsentiert wird."
Fiktionale Fragen an eine längst Verstorbene
Ein besonders ausdrucksstarkes Kapitel ist Carolin Würfel, mit dem Verfassen eines fiktiven Briefs an Brigitte Reimann gelungen, in dem sie nicht nur Fragen an die längst verstorbene Autorin stellt, sondern auch Antworten auf ehemalige Fragen Reimanns findet: "Ihre Vorhersage ist nicht wahr geworden. Die Sowjetunion ist zusammengebrochen. Und gerade tobt ein Krieg, bei dem Russland mit brutalsten Mitteln versucht, längst verlorenes und längst souveränes Gebiet zurückzuerobern. Ihr neuer Mensch ist alt und grausam geworden und mit kommunistischen Idealen haben die sowjetischen Glaubenssätze längst nichts mehr zu tun."
Neben den Lebensläufen der drei Autorinnen und deren Traum vom Sozialismus taucht Carolin Würfel auch tief in das Literaturgeschehen und die politischen Umstände der DDR ein. Sie thematisiert die IM-Tätigkeit Christa Wolfs und die Maxie Wanders für das Ministerium für Staatssicherheit und den missglückten Anwerbeversuch Brigitte Reimanns. Sie beleuchtet die wichtigsten Romane der Autorinnen und stellt sie in den Zusammenhang der politischen Gegebenheiten.
AVIVA-Tipp: Carolin Würfel ist ein fantastisches Buch gelungen, das die politischen und literarischen Lebenswege von Maxie Wander, Brigitte Reimann und Christa Wolf nachzeichnet. Eine Frage hingegen lässt sie offen: "Lohnt es sich, an die Idee des Sozialismus zu glauben, oder platzt der Traum unweigerlich, sobald er den Boden der Realität berührt? Können Menschen an Utopien und Ismen nur zerbrechen?"
Zur Autorin: Carolin Würfel, geboren 1986 in Leipzig, hat Geschichte und Publizistik in Berlin und Istanbul studiert. Nach ihrem Master-Abschluss arbeitete sie als freie Journalistin, insbesondere für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung. 2016 kam sie zur ZEIT und schrieb als Autorin vor allem für das ZEITmagazin. 2018/2019 war sie Redakteurin bei ZEIT ONLINE. Ihre Schwerpunkte sind Feminismus, Ostdeutschland und Alltag. 2019 erschien ihr erstes Buch "Ingrid Wiener und die Kunst der Befreiung".
Carolin Würfel
Drei Frauen träumten vom Sozialismus – Maxie Wander, Brigitte Reimann, Christa Wolf
Hanser Berlin Verlag, erschienen 09/2022
Hardcover, 272 Seiten
ISBN 978-3446273849
Euro 23,00
Mehr zum Buch unter: www.hanser-literaturverlage.de
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Christa Wolf – Umbrüche und Wendezeiten / Sarah Kirsch – Christa Wolf – Wir haben uns wirklich an allerhand gewöhnt – Der Briefwechsel
Christa Wolf kann heutzutage nicht mehr unvoreingenommen gelesen werden. Ihre Stasi-Vergangenheit als IM Margarete wiegt schwer. Zumal die Vorwürfe Anfang August 2020 von der diesjährigen Bachmann-Preisträgerin Helga Schubert in einem FAZ-Beitrag erneut geäußert wurden, in dem sie Wolf als "SED-Schriftstellerin" bezeichnete. Mit diesem Hintergrundwissen lesen sich sowohl die 2008 geführten Interviews im Buch "Umbrüche und Wendezeiten" als auch ihr Briefwechsel mit Sarah Kirsch mit einem anderen Blick. (2020)
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Die Zeit-Redakteurin und Kolumnistin Carolin Würfel hat sich einer ungewöhnlichen Person angenommen, deren Bekanntheitsgrad heutzutage eher klein sein dürfte. Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts war das anders, denn da gehörte Ingrid Wiener in West-Berlin zur Szene der angesagtesten Künstler*innen wie David Bowie oder Iggy Pop. In Kreuzberg führte sie zusammen mit ihrem Lebenspartner Oswald Wiener das berühmt-berüchtigte Lokal "Exil" wo die künstlerische Creme de la Creme verkehrte. (2019)
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