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Beitrag vom 17.05.2022
Doris Hermanns - Und alles ist hier fremd. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil
Bärbel Gerdes
Zahlreiche bekannte und weniger bekannte Schriftstellerinnen flohen zwischen 1933 und 1945 nach Großbritannien. Ihre Geschichte war bislang weitgehend unbekannt. Die Schriftstellerin, Übersetzerin und Bücherfrau des Jahres 2021, Doris Hermanns, entreißt sie mit diesem Buch dem Vergessen.
Doris Hermanns ist tief in die Archive eingetaucht. Zwar gibt es zahlreiche Werke über Exilliteratur und ihren Autoren und Autorinnen, doch wie so oft wurden die Schriftstellerinnen häufig übergangen. Hermanns Spurensuche konzentriert sich auf Großbritannien als Asyl.
Dabei war dieser Staat nicht der bevorzugte der fliehenden und emigrierenden Autorinnen. Neben dem Verlust von Vertrautem und Vertrauten, von eigener Kultur und Zuhause bedeutet Flucht meistens auch den Verlust der Sprache.
Zahlreiche Autorinnen entschieden sich deshalb zunächst für ein benachbartes Land, das ihnen vertrauter war und in dem sie möglicherweise in ihrer Sprache weiter publizieren konnten. Durch die Ausweitung des Faschismus aber mussten sie auch diese Länder – etwa Österreich oder die Tschechoslowakei – verlassen.
Als Insel war Großbritannien wesentlich schwerer zu erreichen. Zudem stellte die Sprache für viele ein großes Hindernis dar.
In ihrem Buch setzt Doris Hermanns die Flucht- und Einreisegeschichten der Autorinnen ins Verhältnis zur britischen Einwanderungspolitik. Diese war beispielsweise abhängig von der Nationalität der Geflüchteten, die sich bei Frauen durch Heirat ändern konnte. Diese konnte auch darüber bestimmen, wer interniert wurde und wer nicht. Auch die Arbeitsgenehmigung bestimmte über die Einreise: da für Frauen Arbeit als Haushaltshilfen vorgesehen war, erhielten manche leichter eine Aufenthaltserlaubnis.
Schockierend schnell traten in Deutschland die Maßnahmen in Kraft, die die Flucht auslösten: den Verlust der Grundrechte der Weimarer Republik, die Bücherverbrennungen, der Ausschluss jüdischer Autorinnen und Autoren aus Verbänden. Doris Hermanns macht darauf aufmerksam, dass die Namen schreibender Frauen im Zusammenhang mit den Bücherverbrennungen 1933 häufig unerwähnt bleiben. Schwarze Listen unliebsamer Bücher und Autorinnen/Autoren wurden zusammengestellt mit denen natürlich ein Publikationsverbot einherging. Alle SchriftstellerInnen mussten der Reichsschrifttumskammer beitreten, die einen sogenannten "Ariernachweis" voraussetzte, wodurch zahlreiche jüdische Menschen per se ausgeschlossen waren.
Etwa 90% der nach Großbritannien Flüchtenden waren Jüdinnen und Juden.
Kenntnisreich schildert Hermanns die Geschichte Großbritannien als Einwanderungsland. Bis 1914 galt ein relativ liberales Einwanderungsgesetz, das jedoch durch den Ersten Weltkrieg verschärft wurde. So mussten die ExilantInnen beispielsweise über ausreichende Finanzen verfügen, was für viele nicht zu leisten war. Sehr strenge Kontrollen machten eine illegale Einwanderung fast unmöglich.
Eine Möglichkeit der Einreise stellten Scheinehen dar, die natürlich unerwünscht waren.
Um sich vor dem Verlust ihrer deutschen Staatsbürger*innenschaft zu schützen und einen britischen Pass zu erhalten, gingen beispielsweise Erika Mann, Therese Giehse und Sybille Bedford eine solche ein.
Arbeitsgenehmigungen wurden aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit nur spärlich vergeben. Jedoch hatten Frauen durch eine Arbeit als Haushaltshilfe oder Krankenschwester größere Chancen. So arbeitete die Wiener Autorin Joe Lederer bis 1943 als Stubenmädchen.
Die Psychologin Charlotte Wolff legte ihre deutsche Staatsbürger*innenschaft ab und ließ sich einen Pass als staatenlose Emigrantin ausstellen. "Dieses Dokument … befreite mich von der Furcht, eines Tages davongejagt zu werden", schreibt sie.
Die Angst vor einer Invasion der Deutschen führte zu einer Überprüfung aller ExilantInnen, die diese in friendly und enemy aliens unterteilte. Dabei wurde nicht zwischen WiderstandskämpferInnen, JüdInnen und NationalsozialistInnen unterschieden.
Hermynia Zur Mühlen wurde 1939 interniert, in einem seit sechs Jahren leerstehenden, völlig verwahrlosten Haus.
Zahlreiche Schriftstellerinnen wurden auf die Isle of Man interniert, wo sich im Lager ein lebendiges kulturelles Leben entwickelte. Zu ihnen gehörten die Autorin und Übersetzerin Franziska Becker und die Lyrikerin Ilse Groß.
Nie gehört? Es sind zahlreiche unbekannte Autorinnen, die Doris Hermanns dem Vergessen entreißt. Ein Füllhorn vergessener Schriftstellerinnen ergießt die Autorin über uns, Zeichen einer unglaublichen Recherchearbeit. Biografische Skizzen beleuchten den jeweiligen Hintergrund und machen uns mit nie gehörten Werken bekannt.
Hermanns erzählt von den besseren Publikationsmöglichkeiten der Illustratorinnen, etwa der Zeichnerin Erna Pinner, deren Tierillustrationen ihr zu Auftragsarbeiten in England verhalfen. Doch musste sie sich auch durch den Verkauf ausgestopfter Wachstuchtiere und von Post- und Grußkarten über Wasser halten.
Im Gegensatz dazu mussten sich die Schriftstellerinnen zunächst orientieren, in welcher Sprache sie zukünftig schreiben würden. Die meisten Schriftstellerinnen hielten es nicht für möglich ihre mehr oder weniger erreichte Meisterschaft im Deutschen zugunsten einer nur mühsam erlernbaren, zwangsläufig vereinfachten und herabgeschraubten englischen Schreibweise aufzugeben, äußert sich Hilde Spiel.
Doris Hermanns forscht nach den Veröffentlichungsmöglichkeiten der Exilantinnen und über deren Netzwerke und Clubs. In der Emigration ist jeder Freund, jeder Bekannte wertvoller Besitz, ein Stück Vergangenheit, zitiert sie Elisabeth Castonier.
AVIVA-Tipp Es ist faszinierend zu lesen, aus wie vielen Perspektiven sich Doris Hermanns der Emigration der Schriftstellerinnen annähert. Jedes persönliche Schicksal ist abhängig von den politischen Rahmenbedingungen, von Netzwerken und oft auch von Glück oder Unglück. Der Materialreichtum, den Hermanns zusammengetragen hat, wirkt gelegentlich überwältigend, ist gleichzeitig jedoch Hinweis darauf, wie viel noch zu erforschen, wie viele Schriftstellerinnen noch zu entdecken sind. Es ist damit ein Werk der Erinnerung, aber auch ein Werk des Auftrags.
Zur Autorin: Doris Hermanns, geboren 1961 in Bardenberg bei Aachen, lebte 25 Jahre lang als Antiquarin und Autorin in Utrecht und ist seit 2015 in Berlin als Autorin, Publizistin, Redakteurin und Übersetzerin tätig. Sie veröffentlichte u.a. zahlreiche Porträts von Frauen auf www.fembio.org.
Im AvivA Verlag erschien 2012 die Biografie Christa Winsloe, "Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela"
Sie ist die Herausgeberin der Anthologie niederländischer Autorinnen "Wär mein Klavier doch ein Pferd" (edition fünf) und übersetzt aus dem Niederländischen und Englischen.
Im Verbrecher Verlag erschien "Bibliodiversität. Manifest für unabhängiges Publizieren" von Susan Hawthorne, das sie übersetzt und mit einem Nachwort versehen hat.
Sie ist außerdem Herausgeberin der Feuilletonsammlung "Auto-Biographie und andere Feuilletons" von Christa Winsloe sowie Herausgeberin und Übersetzerin von "Sixty to Go. Roman vom Widerstand an der Riviera" von Ruth Landshoff-Yorck. 2021 gab sie den Roman "Christian Voß und die Sterne" von Hertha von Gebhardt heraus. Zur Frankfurter Buchmesse wurde sie als "BücherFrau des Jahres 2021" ausgezeichnet. Doris Hermanns lebt in Berlin.
Doris Hermanns
"Und alles ist hier fremd". Deutschsprachige Schriftstellerinnen im britischen Exil
AvivA Verlag, erschienen am 2. Mai 2022
240 S., mit Abb., Hardcover mit Leseband
ISBN 978-3-949302-05-3
22, 00 Euro
Mehr zum Buch: www.aviva-verlag.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
BücherFrau des Jahres 2021: die Autorin, Übersetzerin, Herausgeberin und Redakteurin Doris Hermanns
Die Autorin, Übersetzerin, Herausgeberin und Redakteurin Doris Hermanns wird BücherFrau des Jahres 2021. Mit dieser Auszeichnung ehren die BücherFrauen sie als Kämpferin für die Sichtbarmachung von Frauen und ihrem Werk und würdigen ihr jahrelanges, ehrenamtliches Engagement für das Netzwerk.
Christa Winsloe - Auto-Biographie und andere Feuilletons. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Doris Hermanns
In ihren Feuilletons aus den 20er und 30er Jahren widmet die Schriftstellerin und Tierbildhauerin sich clever, humorvoll und wunderbar subjektiv den unterschiedlichsten Themen und beschreibt so die vielen Seiten einer optimistischen und chaotischen, lebensbejahenden und bedrohlichen Zeit. (2016)
Wär mein Klavier doch ein Pferd
25 Jahre lebte Doris Hermanns in den Niederlanden. In ihrer Anthologie stellt die Redakteurin und Autorin uns die Erzählkunst niederländischer Autorinnen vom Anfang des vorigen Jahrhunderts bis in die Gegenwart vor, wobei die Erzählerinnen uns sehr subjektive, oft ungewöhnliche Einblicke in die wechselvolle Geschichte des kleinen Landes an der Nordsee geben. (2016)
Meerkatzen, Meißel und das Mädchen Manuela. Die Schriftstellerin und Tierbildhauerin Christa Winsloe
Während der Name Christa Winsloe wahrscheinlich nur noch wenigen etwas sagt, ist ihr erstes Theaterstück bzw. dessen Verfilmung unter dem Titel "Mädchen in Uniform" umso bekannter. Die Antiquarin Doris Hermanns begibt sich auf die Spuren einer besonderen und mutigen Frau, die trotz ihres großen Ruhmes in den 1930er Jahren heute fast vergessen ist. (2012)
Lisa Seiden - Bleib immer mit deinem Bruder zusammen. Eine Geschichte vom Kindertransport. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Inge Hansen-Schaberg
Neun Jahre alt ist Lisa Leist, als sie aus ihrem vertrauten Leben gerissen wird. Gemeinsam mit ihrem Bruder Peter steht sie fast ohne Vorwarnung auf dem Wiener Bahnhof, umgeben vom Lärm zahlloser Menschen und lauscht den eindringlichen Ermahnungen ihrer Mutter. Erst acht Jahre später sollte sie ihre Eltern wiedersehen. Lina und Peter gehörten zu den jüdischen Kindern, deren Eltern es gelang, sie nach Großbritannien ausreisen zu lassen, um sich vor den Verfolgungen des Nationalsozialismus zu retten. (2018)
Irmgard Keun – Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften. Irmgard Keun – Kind aller Länder
Ihre gesellschaftskritischen Romane, "Gilgi, eine von uns" (1931) und "Das kunstseidene Mädchen" (1932) machten sie schlagartig berühmt. Der Star der Literaturszene der Dreißiger Jahre, deren Werke wegen ihres messerscharfen Satire-Stils und Gesellschaftskritik von den Nazis verboten und verbrannt wurden, geriet in den 1950er Jahren in Vergessenheit. Erst durch eine Veröffentlichung im "Stern" im Jahr 1977 wurde Irmgard Keun wieder in das Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit gebracht. (2017)
Gerda Lerner - Es gibt keinen Abschied
Gerda Lerner, die Pionierin der feministischen Geschichtswissenschaften und Verfasserin der Standard-Werke "Die Entstehung des Patriarchats" (1986) und "Die Entstehung des feministischen Bewusstseins" (1993), war auch eine beeindruckend gute Literatin. Ihren Fans heute ist das spätestens seit dem Erscheinen ihrer Autobiographie "Feuerkraut" (Czernin Verlag) 2009 klar. Jetzt hat der Czernin Verlag auch ihren ersten Roman "Es gibt keinen Abschied" – erstmals auf Deutsch 1953 erschienen – neu herausgegeben, klug kommentiert von Marlen Eckl. (2017)
Kristine von Soden - Und draußen weht ein fremder Wind .... Über die Meere ins Exil
Wie gelang den wenigen Überlebenden 1933 bis 1941 die Flucht ins Ungewisse, was ging dem Verlust um Heimat, Familie, Sprache und Kultur voraus? Im Zentrum dieses Buches steht der verzweifelte Kampf jüdischer Emigrantinnen um Visa und Affidavits für das von den Nazis erzwungene Exil. Anhand von Tagebüchern, Briefen, Gedichten sowie unveröffentlichten Bild- und Textdokumenten und literarischen Zeugnissen aus den im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main befindlichen Nachlässen jüdischer Emigrantinnen zeichnet die Autorin die dramatischen Umstände der individuellen Fluchtwege akribisch nach. (2017)
Gabriele Tergit – Käsebier erobert den Kurfürstendamm
Als der Volkssänger Käsebier 1931 zum Megastar wird, ist Berlin ist eine aufregende und dynamische Stadt, eine Stadt vieler Kulturen und Identitäten. Der satirische Gesellschaftsroman der als Elise Hirschmann geborenen Schriftstellerin und Gerichtsreporterin erschien 1931 erstmals im Rowohlt Verlag. In den Folgejahren wurde das Werk über das Berlin der späten Weimarer Republik in verschiedensten Verlagen veröffentlicht, geriet schließlich in Vergessenheit, bevor er 2016 im Schöffling Verlag von Nicole Henneberg herausgegeben und mit einem Nachwort versehen wurde. (2016)
Anna Funder - Alles, was ich bin
Ihr Tod war ein Rätsel: Als die deutschen Widerstandskämpferinnen Dora Fabian und Mathilde Wurm 1935 in London tot aufgefunden wurden, schien es ein unerklärlicher Doppel-Selbstmord gewesen zu sein. Der Roman beruht auf wahren Begebenheiten. Die Autorin Anna Funder lernte als junge Frau die hochbetagte Ruth Blatt kennen, die nach ihrer Exil-Zeit in Shanghai nach Australien emigriert war, und auf deren Lebensgeschichte die Person von Ruth Becker basiert. (2014)
Birgit Haustedt - Die wilden Jahre in Berlin. Eine Klatsch- und Kulturgeschichte der Frauen
Salonnières, Rennfahrerinnen, Künstlerinnen und Provokateurinnen aus Überzeugung prägten die weibliche Topografie Berlins in den 1920er Jahren. Valeska Gert, Vicki Baum, Dora Benjamin und andere Freigeister dekonstruierten gängige Frauenbilder - bis der Nationalsozialismus sie von der Bühne verbannte. (2013)
Natasha Solomons - Als die Liebe zu Elise kam
Elise Landau war eines von etwa 10.000 jüdischen Kindern, das aus Europa nach Großbritannien emigrieren konnte. Ihre Geschichte steht stellvertretend für die vielen namenlosen Schicksale derer, die Familien und Zuhause für immer verloren haben. (2012)
Elfi Hartenstein - Jüdische Frauen im New Yorker Exil
Jüdisch, weiblich, im Exil. Wer denkt da nicht an die Ehefrauen berühmter jüdischer Intellektueller? Was ist aber mit den vielen unbekannten Biografien jüdischer Exilantinnen? Was bedeutet Exil? (2011)
Edda Ziegler - Verboten - Verfemt - Vertrieben. Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus
Gibt es eine speziell weibliche Exilsituation und -erfahrung? Diese Frage sei schwer zu beantworten, so Ziegler. Dennoch zeigt ihr Buch geschlechtsspezifische Unterschiede auf, indem es von einem breitgefächerten Ansatz ausgeht. (2010)
Louise Carpenter - Ida und Louise
Die Recherche der englischen Journalistin Louise Carpenter über das Leben der im Nationalsozialismus beherzt und unerschrocken handelnden Schwestern Ida & Louise Cook liegt hiermit weltweit erstmals als Buch vor. Schon 1965 als "Gerechte der Völker" ausgezeichnet, ehrte der englische Premierminister Gordon Brown die beiden Schwestern am 11. März 2010 postum als "Heroes of the Holocaust", eine Auszeichnung für über zwanzig britische StaatsbürgerInnen, zu denen nun auch Ida und Louise Cook gehören. (2010)