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Beitrag vom 15.05.2022
Dorothee Nolte - Rahel Varnhagen - Lebensbild einer Salonière. Ich liebe unendlich Gesellschaft
Silvy Pommerenke
Die Biographie von Dorothee Nolte über Rahel Varnhagen, geborene Levin, gleicht einer Liebeserklärung. Einer Liebeserklärung an eine ungewöhnliche Frau, die Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhunderts im alten Berlin lebte, und für die Nachwelt als Salonière bekannt wurde. Am 19. Mai 2022 jährt sich ihr Geburtstag zum 251. Mal.
Rahel Varnhagen, geborene Levin, zeichnete nicht nur ihre große Wissbegier, ihr scharfer Verstand, und ihr Drang, in Gesellschaft zu sein, aus, sondern sie sorgte auch dafür, dass sie als kluge und wissende Gastgeberin für ihre Salon-Gesellschaften wahrgenommen wurde. Es waren "intellektuell anregende Nachmittage oder Abende in gemischtem Kreis", die zuerst von Henriette Herz eingeführt wurden, der sieben Jahre älteren Freundin von Rahel. In diesem Salon traf sich alles, was Rang und Namen hatte, die nicht aus der gleichen gesellschaftlichen Schicht und der gleichen Herkunft stammten. Es trafen sich "Christen und Juden, Gelehrte und Künstler, Adlige und Bürger, Militärs und Beamte, Männer und Frauen". Das war nur möglich, weil die wohlhabenden Juden und Jüdinnen außerhalb der Ständegesellschaft lebten, was als eine Art neutrales Terrain galt.
Ausgrenzung als Jüdin und Frau
Auch wenn diese Salons eine bunte Mischung an Teilnehmer*innen zuließen, so litt Rahel Varnhagen stark unter der gesellschaftlichen Ausgrenzung, die sie als Jüdin erfahren musste. Dazu haderte sie mit ihrem Dasein als Frau, da dies ebenfalls mit Ausgrenzung verbunden war. Weder war es ihr erlaubt, ein Studium aufzunehmen (was sie liebend gerne getan hätte), noch konnte sie wie ihre männlichen Freunde weite Reisen unternehmen. Auch dies war ein herber Verlust. Lediglich der Besuch von Bade- und Kurorten war ihr als Frau vergönnt.
Der Salon und die Rezeption
Trotz dieser Einschränkungen war Rahel Varnhagen im Rahmen ihrer Möglichkeiten umtriebig suchte die Gesellschaft und den geistigen Austausch und stellte sich gegen Konventionen . Sei es, dass sie die Ehe als Institution ablehnte ("Ist nur ein Hausstand heilig? Ist intimes Zusammenleben, ohne Zauber und Entzücken, nicht unanständiger als Ekstase irgendeiner Art? Weg mit der Mauer! Weg mit ihrem Schutt!"), oder dass sie zu nächtlicher Zeit noch zum Tee einlud. Der Verleger Johann Daniel Sander äußerte sich abfällig über diese nächtlichen Tee-Soireen und nannte sie "Wüstlinge beiderlei Geschlechts". Zu den vermeintlichen Wüstlingen zählten die Sängerin Giuseppina Marchetti, die Schauspielerin Friederike Unzelmann, die Brüder Wilhelm und Alexander von Humboldt, der preußische Prinz Louis Ferdinand oder Pauline Wiesel.
Rahel Varnhagens Freund*innen aber hatten nur positive Worte für sie. Da wäre der Romantiker Friedrich Schlegel, der in seinem Roman "Lucinde" ein Portrait von der Salonière formulierte: "Sie hatte eine starke Anlage zum Leichtsinn und lebte in den freeisten Verhältnissen", oder Goethe, der nach einer Begegnung mit ihr sagte: "Ja, es ist ein Mädchen von außerordentlichem Verstand, die immer denkt", und Heinrich Heine nannte sie die "geistreichste Frau des Universums".
Das Schreiben als Lebensform
Neben ihren Salons zeichnete sich Rahel Varnhagen auch durch ihren regen Briefverkehr, ihre Aphorismen und ihre Tagebücher aus. Nahezu 6.000 Briefe aus ihrer Korrespondenz mit knapp 300 Briefpartner*innen sind erhalten. Diesen Umstand hat die Nachwelt vor allem ihrem Ehemann Karl August von Ense zu verdanken, der sich Zeit seines Lebens mit der Sichtung, dem Abschreiben und dem Publizieren ihrer Briefe unter dem Titel "Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde" widmete. Dabei hat er stellenweise massiv in die Briefe eingegriffen, beispielsweise dichtete er ihr eine Liebesaffäre zu Beethoven an, die es nie gegeben hat. Ihm war daran gelegen, den Freundeskreis von Rahel noch berühmter darzustellen, als er es eh schon war. Außerdem ließ er Textstellen aus und führte irreführende Verschlüsselungen von Namen ein, die vor allem dazu dienen sollten, Rahels Umgang und ihren Freundeskreis weniger jüdisch und stattdessen mehr aristokratisch erscheinen zu lassen.
Ein lebendiges Bild einer Salonière
Die Journalistin und Autorin Dorothee Nolte entwickelt ein lebendiges Panorama des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Nolte bearbeitet alle wichtigen Stationen Rahel Varnhagens (Berlin, Paris, Prag Wien, Karlsruhe, Baden-Baden), ihre Liebschaften und Verliebtheiten (Graf Finckenstein, August Wilhelm Bokelmann, Friedrich Gentz, Don Raphael d´Urquijo, Alexander von der Marwitz und schließlich Karl August Varnhagen, den sie 1814 heiratete, nachdem sie zum Christentum übertrat) und schildert die zeitgenössischen politischen und kulturellen Gegebenheiten (Napoleons Kriegszüge, französische Besetzung Berlins, Heinrich von Kleists Suizid, Preußisches Emanzipationsedikt von 1812, Gründung der deutschen Tischgesellschaft, stärker werdender Nationalismus und Antisemitismus, Befreiungskriege 1813 - 1815, Völkerschlacht bei Leipzig 1813, Hep-Hep-Unruhen 1819, Karlsbader Beschlüsse, Cholera-Epidemie 1831).
Auch wenn das schmale Lesebändchen bereits 2021 erschienen ist, so ist es immer noch äußerst lesenswert. Dorothee Nolte hat viel Informationen auf wenig Raum untergebracht, und der Wissenszuwachs beim Lesen ist enorm. In Anekdoten nähert sie sich der bekannten jüdischen Salonière an, und versteht es gekonnt, einen historischen Abriss der Romantik und der europäischen Aufklärung pointiert wiederzugeben.
AVIVA-Tipp: Für Liebhaber*innen Rahel Varnhagens bietet Dorothee Noltes Biographie eine willkommene Auffrischung, für Unvertraute einen kurzen, aber prägnanten Einstieg in das Leben der Salonière und die Zeit der Romantik, die Lust macht, sich weiter mit Rahel Varnhagen zu beschäftigen!
Zur Autorin: Dorothee Nolte, geboren am 6. Februar 1963 in Bonn, studierte an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, in Paris (Université de la Sorbonne), an der Freien Universität Berlin und der Stanford University/Kalifornien und promovierte in Romanistik an der Freien Universität Berlin, mit einer Arbeit zu "Umbruchsfragen. Das Genre des Interview-Porträts im Spanien der transición". Ihre journalistischen Erfahrungen sammelte sie zunächst freiberuflich, seit 1992 ist sie festangestellt beim Tagesspiegel in Berlin, zurzeit als Redakteurin im Bereich "Themenspeziale und Magazine". Zwischen 2004 und 2019 hat sie die Veranstaltungsreihe "Zeitung im Salon" organisiert und musikalisch-literarische Programme moderiert. Seit 2014 organisiert sie die Konferenz "Diversity - Für Vielfalt in der Arbeitswelt" mit, seit 2016 betreut sie das Projekt #jetztschreibenwir mit Exiljournalist*innen. Bis 2013 leitete sie die "Tagesspiegel-Akademie". Neben ihrer Angestelltentätigkeit gibt sie Seminare, moderiert, schreibt und liest bei eßkultur. Ehrenamtlich engagiert sie sich im Kuratorium des Freundeskreises des Ethnologischen Museums Berlin.
Dorothee Nolte lebt in Berlin.
Dorothee Nolte im Netz: www.sprachlust.de
Dorothee Nolte - Rahel Varnhagen - Lebensbild einer Salonière - "Ich liebe unendlich Gesellschaft"
Eulenspiegel Verlag, erschienen 04/2021
Gebunden, 128 Seiten
ISBN 978-3-359-03003-4
Euro 12,00
Mehr zum Buch unter: www.eulenspiegel.com
Zu Rahel Varnhagen: geboren am 19. Mai 1771 als Rahel Levin, wuchs in Berlin als ältestes von fünf Kindern in einer jüdischen Familie auf. Ihr Vater Markus Levin (1723-1790) war Juwelenhändler. Über Rahels Mutter Chaie gibt es kaum Informationen Sie starb 1809. Ihre fehlende Bildung glich Rahel durch ein autodidaktisches Bildungsprogramm aus. Sie lernte Fremdsprachen, nahm Geigenunterricht und Kompositionslehre, und sie besuchte private Berliner Vorlesungen - ihr Bildungshunger schien keine Grenzen zu haben. Dies und ihre Liebe zur Konversation führte 1790 zur Bildung ihres Salons. Der erste, der von einer unverheirateten Frau geführt wurde. Sie versammelte darin Intellektuelle aus unterschiedlichen Ständen und Religionen. Er entwickelte sich rasch zu dem wahrscheinlich wichtigsten Zentrum der Berliner Frühromantik und existierte bis 1806. Durch ihre Heirat mit Karl August Varnhagen von Ense im Jahr 1814 wurde sie zu Rahel Varnhagen (von Ense). Und sie konvertierte zum Christentum. Die Schriftstellerin und Salonière gehörte der romantischen Epoche an und vertrat zugleich Positionen der europäischen Aufklärung. Sie setzte sich für die jüdische Emanzipation und die Emanzipation der Frauen ein. Einen zweiten Salon führte sie von 1819 bis 1833 in der Mauerstraße 36, und sie zeichnete sich außerdem durch ihren umfangreichen Briefwechsel aus, der in Teilen von ihrem Ehemann posthum unter dem Titel "Rahel. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde" herausgegeben wurde. Zu diesen Freund*innen zählten neben den Gebrüdern Humboldt unter anderen Henriette Herz, Heinrich von Kleist, Heinrich Heine, Gräfin von Zeppelin, Bettine von Arnim, Ludwig Börne und Prinz Louis Ferdinand, der sie zärtlich "meine Kleine" nannte.
Rahel Varnhagen starb am 7. März 1833. Ihr Grab befindet sich auf dem Dreifaltigkeits-Kirchhof in Kreuzberg, Baruther Str./Ecke Mehringdamm, 10961 Berlin.
Mehr Informationen zu Rahel Varnhagen, geborene Levin unter:
Rahel Levin Varnhagen, 1771 – 1833 , eine Biographie von Barbara Hahn auf Jewish Women´s Archive
Die Die Varnhagen Gesellschaft e. V.: www.varnhagen.info
Literatur (Auszug)
Carola Stern
Der Text meines Herzens
Das Leben der Rahel Varnhagen
Verlag: Rowohlt Repertoire, 2019
Marion Kaplan (Hrsg)
Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland. Vom 17. Jahrhundert bis 1945
Verlag C.H.Beck, 2003
Gebundene Ausgabe, 638 Seiten
ISBN 3 406 50205 9
19,95 Euro
Hrsg: Hannah Lund
"Die ganze Welt auf ihrem Sopha" Frauen in europäischen Salons (Band 16)
trafo Verlag, 1. Auflage 2004
Gebundene Ausgabe, 198 Seiten
ISBN 3-89626-456-7
19,80 Euro
Hrsg: Hannah Lund
Der Berliner >>jüdische Salon<< um 1800
Herausgegeben vom Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien, Potsdam, in Kooperation mit dem Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg (Redaktion: Werner Treß)
De Gruyter Verlag, Juli 2012
Band 1, gebunden, 593 Seiten
ISBN 978-3-11-027140-9
99,95 Euro
Hrsg: Karl August Varnhagen von Ense, mit einem Nachwort von Dr. Ulrike Landfester
Rahel- Ein Buch des Andenkens an ihre Freunde
Matthes & Seitz Verlag, 1. Auflage 2010
Gebundene Ausgabe, 639 Seiten
ISBN 978-3-88221-848-0
39,90 Euro
Barbara Hahn (Hrsg), mit einem Essay von Brigitte Kronauer
Rahel. Ein Buch des Andenkens an ihre Freunde
Eine gemeinsame Veröffentlichung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Wüstenrot Stiftung
Wallstein Verlag, 2011
6 Bände, gebunden, zus. 3310 Seiten
ISBN 978-3-8353-0528-1
69,- Euro
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Zweiter Band der Kritischen Gesamtausgabe von Hannah Arendt - Rahel Varnhagen. Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin. Herausgegeben von Barbara Hahn
"Was machen Sie? Nichts. Ich lasse das Leben auf mich regnen." Dies ist wohl das berühmteste Zitat Rahel Varnhagens, der 1771 als Rahel Levin in Berlin geborenen jüdischen Salonnière aus der Romantik. Am 7. März 2021 jährt sich ihr Todestag zum 188. Mal, am 19. Mai 2021 ihr 250. Geburtstag. (2021)
Rahel Varnhagen von Ense, geborene Levin. Die Geschichte einer indirekten Politikerin
Dem Einfluss der jüdischen Salonière widmet sich die Studentin Michèle Prigoschin, die ihre eigene Geschichte (21. Jhd.) mit der Rahels (18.-19. Jhd.) miteinander vergleichen möchte. (2012)
Rahel Varnhagen. Ein Buch des Andenkens für ihre Freunde
Erstmals seit 1833 wieder veröffentlicht – das Ich in einer fremdbestimmten Welt. Das schriftliche Vermächtnis - Rahel, "die erste Jüdin der deutschen Literatur" endlich im Matthes & Seitz Verlag verfügbar. (2010)