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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 24.12.2021


Grit Lemke - Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror. Gespräch mit der Autorin am 17. Januar 2022 im Berliner Ensemble beim Radioeins- und Freitag-Salon
Helga Egetenmeier

Bitte nicht von dem Untertitel irritieren lassen - "Freiheiten, Freundschaften und Rassismus" wäre sicherlich passender. Denn die Dokumentarfilmerin und Autorin reflektiert in ihrem dokumentarischen Roman die Sozialisation ihrer Generation, die als junge Erwachsene die rassistischen Ausschreitungen im September 1991 Hoyerswerda erlebten.




Dafür geht Grit Lemke, die mit "Gundermann Revier" im Jahr 2020 für den Grimmepreis nominiert wurde, weit in ihre, durch ihre sächsische Heimatstadt geprägte, Kindheit und Jugend zurück.

Mehr als eine Lesung – Grit Lemke im Berliner Pfefferberg

Als die Autorin am 3. Oktober 2021 aus ihrem dokumentarischen Roman liest, ist sie nicht allein auf der Bühne. Zwei Freund*innen, Claudia und Schudi, die auch im Buch zu Wort kommen, sitzen an ihrer Seite. Während Lemke die Textpassagen übernimmt, lesen sie die Stellen aus den Interviews mit der Freundesclique der Autorin. Als sachkundige Moderatorin ist die Filmemacherin Annekatrin Hendel dabei, die sich in ihren Dokumentarfilmen wie "Familie Brasch", "Fünf Sterne" und "Vaterlandsverräter", ebenfalls mit der Geschichte der DDR auseinandersetzt.

Lemke erklärt gleich zu Beginn, dass sie an diesem Nachmittag keine Ausschnitte über das Pogrom vom September 1991 lesen werde. Und doch zieht sich die Frage, wie es dazu kommen konnte – sowohl bei der Lesung, wie auch bei der Lektüre des Buches – als ein roter Faden durch den Text. Im Pfefferberg erzählt die Autorin weiter, sie habe mit dem Buch bereits vor 16 Jahren begonnen. Es sei für sie jedoch erst stimmig geworden, als sie 2019 den ehemaligen mosambikanischen Vertragsarbeiter David Macou kennenlernte. Denn dadurch konnte sie dessen Rassismus-Erfahrungen in Hoyerswerda in ihr Buch aufnehmen.

Freundschaften - Ãœber das Aufwachsen in Hoyerswerda

Grit Lemke ist ein humorvoller, wie auch ernsthafter Mensch. Das drückt sich in ihrem mit Dialekt versetzten Schreibstil ebenso aus, wie bei ihrer Lesung, die dadurch eine gewisse Leichtigkeit erhält. Doch sie verliert die Wahrhaftigkeit ihrer Erfahrungen dabei nicht aus den Augen. Und so beginnt ihr Buch als launige und hintergründige Sozialstudie über das Aufwachsen in einer durch den Tagebau geprägten Stadt.

Nach Hoyerswerda, die als wachsende Vorzeigestadt im Südosten der DDR präsentiert wird, deren Neubauten mit Zentralheizung und Innentoilette als modern gelten, ziehen zuerst die Eltern. Dann holen sie die Kinder nach, und "das Hochhaus ist jetzt unser Dorf", erinnert sich Grit Lemke. "In den Häusern herrschen die Mütter – zumindest jene, die nicht ´of Orbeet´ sind", und sie kümmern sich gemeinsam um die Kinder, "eine Kittelschürze ist alle Kittelschürzen." Doch in Hoyerswerda leben und arbeiten auch Menschen, die nach Meinung der Autorin nicht dazu gehören. "Gegenüber von unserer Schule erstreckt sich endlos, über eine ganze Straßenlänge, die ´Polenmauer´". Die deutschen Kinder kennen dort niemanden, und das ändert sich auch nicht, als sie älter werden und Lemke sich mit ihrer Clique im links-alternativen Künstler*innen-Milieu verortet.

In den sich bildenden Jugendcliquen zerbrechen die Kinderfreundschaften an unterschiedlichen politischen Einstellungen. "Die Reviere sind aufgeteilt. Jeder weiß, wo er hingehört […] Gefährlich ist nur, wenn man nirgendwo dazugehört.", so Lemke. Dazu zitiert sie David Macou, der als 19-jähriger mit seinen Kumpels "nach der Arbeit auch ein bisschen mitmachen" wollte. Doch der Rassismus sei so ausgeprägt gewesen, dass sie einige Gaststätten nicht betreten durften, so Macou. In einigen wurden sie offen rassistisch beleidigt: "So laut, dass wir rausmussten, weil, wir hatten Angst." Und diese Zeit, über die Macou in dieser Interviewpassage spricht, ist noch über zehn Jahre entfernt vom "Mauerfall".

Rassismus und Rechtsradikalismus erkennen

"David, Manuel, Antonio, Filipe … Wir hatten uns die Namen nicht gemerkt. In den letzten Wochen waren die Jungs aus Mosambik manchmal im ´Laden´ aufgetaucht. Ihre Gesichter sahen für uns alle gleich aus. Sie waren so alt wie wir. Nachdem sie an ihrem Tisch ein Bier getrunken hatten, waren sie wieder Richtung ´Polenmauer´ verschwunden."

Denn dort, wo früher die osteuropäischen Arbeiter*innen separiert lebten, waren nun die DDR-Vertragsarbeiter*innen, wie auch nach dem Mauerfall die Geflüchteten, untergebracht. Während ihrer Lesung stellt Lemke klar, dass weder der Rassismus, noch die rechtsradikalen Angriffe auf das Asylbewerber*innenheim und die Unterkunft der Vertragsarbeiter*innen im September 1991 durch die Anreise von westdeutschen Nazis erfolgte.
"Später, als Brandsätze in die Wohnheime der Ausländer fliegen und eine Menge sich vor ihnen versammeln und dazu jubeln wird, später wird es heißen, die Gewalt sei aus dem Nichts und von außen gekommen. Das wissen wir nun wirklich besser."

Lemke erzählt, wie sie durch David Macou und seine Lebensgeschichte tief erschüttert wurde. Durch ihn habe sie von einer Parallelwelt erfahren bei der sie sich heute fragt, wie sie damals davon nichts hatte erfahren können. Im Buch schreibt sie zu ihren Gefühlen in dieser Zeit: "Alles, was wir dabei empfinden, ist Erleichterung. Es waren nicht wir, in deren Fenster Steine flogen". Während der Lesung erklärt sie, dass sie auf ihre an sich selbst gestellte Frage, ob sie sich damals gegen die Masse der Steinewerfer*innen hätte stellen sollen, heute mit "Ja" antworten würde.

Grit Lemke bei der Buchpremiere von "Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror" am 3. Oktober 2021 im Berliner Pfefferberg in Berlin. © Helga Egetenmeier AVIVA-Berlin


Für eine demokratische Zivilgesellschaft

"Kinder von Hoy" werde demnächst als Hörbuch eingelesen, kündigte Grit Lemke bei der Lesung im Pfefferberg an. David Macou sei gerade in Deutschland und habe seinen Teil bereits eingesprochen. Glücklicherweise sei es durch die Hartnäckigkeit des Verlags gelungen, ihm trotz mehrfacher abschlägiger Bescheide eine Einreiseerlaubnis zu erwirken. Die Deutsche Botschaft hätte ihre Ablehnungen damit begründet, dass er mittellos sei - ein Umstand der auch dadurch entstanden ist, dass die ehemaligen Vertragsarbeiter*innen aus Mosambik bis heute den vertraglich vereinbarten Lohn nicht erhalten haben. Daher habe sich in Hoyerswerda ein Projekt innerhalb der "Initiative Zivilcourage Hoyerswerda" entwickelt, das Spenden für die selbstverwaltete Sozialkasse der ehemaligen Vertragsarbeiter*innen in Maputo/Mosambik sammelt. Angeregt durch ihr Buch, freut sich Lemke, wurde diese von einer Gruppe ehemaliger Beschäftigter um David Macou unter dem Namen "Criancas des Hoy – Kinder von Hoy", gegründet.

AVIVA-Tipp: Grit Lemke reflektiert in ihrem dokumentarischen Roman, wie ihre unbeschwerte Kindheit und rebellische Jugend in der DDR parallel neben rassistischen Strukturen bestand. Spannend erzählt, erfährt die Leser*in nicht nur, wie die Autorin und ihre Freund*innen im weißen Hoyerswerda Erwachsen wurden, sondern bekommt durch den genauen Blick auf diesen Mikrokosmos Einblick in die tief verankerten rassistischen Strukturen von Gesellschaften in Deutschland.

Zur Autorin: Grit Lemke, geboren in Spremberg, aufgewachsen in Hoyerswerda, arbeitet als Regisseurin, Kuratorin und Autorin. Nach einer Baufacharbeiterlehre arbeitete sie im Theater- und Kulturbereich, studierte in Leipzig Kulturwissenschaft, Ethnologie und Literaturwissenschaft und promovierte in Europäischer Ethnologie an der Humboldt-Universität Berlin. Von 1991 bis 2017 arbeitete sie für das Festival für Dokumentar- und Animationsfilm DOK Leipzig, seit 1998 auch für das FilmFestival Cottbus. Sie hatte Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen, ist stellvertretendes Mitglied der BKM-Jury für Dokumentarfilm und Mitglied des Filmfestivalbeirats der Stadt Wien, der AG DOK und der Kulturfabrik Hoyerswerda e.V. Ihr Film "Gundermann Revier" wurde 2020 für den Grimmepreis nominiert.

Die Autorin im Netz: www.gritlemke.de

Grit Lemke
Kinder von Hoy. Freiheit, Glück und Terror

suhrkamp nova, erschienen: September 2021
Taschenbuch mit Klappenbroschur, 256 Seiten
ISBN-13: 978-3-518-47172-2
16,00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de

Hinweis auf Veranstaltungen

Am 17. Januar 2022 findet ein Gespräch mit Grit Lemke im Berliner Ensemble beim "Radioeins- und Freitag-Salon" statt.

Weitere Termine zu Lesungen sind zu finden unter www.gritlemke.de

Weitere Infos zu Initiativen unter:

www.heimatkunde.boell.de
Ein Interview der Journalistin und Dokumentarfilmerin Julia Oelkers mit David Macou, das unter dem Titel "Es ist unmenschlich, was mit uns passiert ist" im Januar 2020 auf der Webseite der Heinrich Böll Stiftung veröffentlicht wurde. Grit Lemke verwendete, mit Genehmigung von Julia Oelkers, Teile dieses Interviews für ihr Buch.

www.projekte.mima-hoy.de
"Criancas de Hoy – Kinder von Hoy", ein Projekt, durch das 20 Pat*innenschaften an die 20 noch lebenden Mosambikaner*innen vergeben werden sollen, die viele Jahre als Vertragsarbeiter*innen in Hoyerswerda lebten und nach ihrer Vertreibung bis heute ihren Lohn nicht ausbezahlt bekamen. Weitere Projektziele sind geplant, wie eine Schulpat*innenschaft und Aufklärungsarbeit über die Situation der Vertragsarbeiter*innen damals und heute.

www.zivilcourage-hoy.de
Die "Initiative Zivilcourage Hoyerswerda" gründete sich 2007 und wendet sich gegen rechtsradikal Gruppen mit Maßnahmen und Veranstaltungen zur Aufklärung über den Rechtsradikalismus. Ihr "Ziel ist es, gemeinsam ein breites, bürgerschaftliches Engagement aufzubauen."

www.amadeu-antonio-stiftung.de/hoyerswerda-hilft-mit-herz-7843

www.rosalux.de
Erstmals nach den rassistischen Ausschreitungen von 1991 in Hoyerswerda eröffnete im Februar 2014 eine neue Unterkunft für Asylsuchende. Seither engagiert sich das breite Bündnis "Hoyerswerda hilft mit Herz" für eine demokratische Willkommenskultur. Unterstützt wird das Bündnis auch durch eine Förderung der Amadeu Antonio Stiftung. Seit ihrer Gründung 1998 ist es das Ziel der Amadeu Antonio Stiftung, eine demokratische Zivilgesellschaft zu stärken, die sich konsequent gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus wendet.

Der Artikel "Hoyerswerda und die Geburt des Antirassismus. Interview mit Emmanuel Adu Agyeman", aus dem Buch "Erinnern stören", lesbar als PDF-Dokument.

www.antifainfoblatt.de
Die "Initiative Pogrom 91" reflektiert mit ihrem Artikel "Fehlende Aufarbeitung" die rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda 20 Jahre danach. (2011)

www.hoyerswerda-1991.de
Eine Webdokumentation von out of focus über Ursachen, Ablauf und Folgen der rassistischen Angriffe auf Migrant*innen in Hoyerswerda 1991.

www.bpb.de
Im Dossier "Rechtsextremismus" der Bundeszentrale für politische Bildung schreibt Simone Rafael im Juli 2007 über "Klimawandel in Hoyerswerda. Wie eine aktive Zivilgesellschaft um die Kinder ihrer Stadt kämpft." (2007)

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Gesichter der Antimoderne. Gefährdungen demokratischer Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Herausgegeben von Dr. Martin Jander, Anetta Kahane
Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes analysieren vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Themenfelder die Kontinuitäten von Antisemitismus und Antimoderne sowie ihre Präsenz in verschiedenen politischen Strukturen wie gesellschaftlichen Milieus. Weithin sichtbar in den wissenschaftlich-soziologischen, essayistischen oder empirischen Beiträgen werden die vielfältigen Erscheinungsformen von (Alltags)Antisemitismus und damit die Herausforderungen für die Demokratie: Zivilgesellschaft wie Politik oder Kunst und Kultur. (2020)

Lydia Lierke und Massimo Perinelli (Hg.) - Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive
Die Herausgeber*innen Lydia Lierke und Massimo Perinelli versammeln in "Erinnern stören" ein breites Spektrum von Biografien, die bei der deutsch-deutschen Vereinigung ignoriert und ausgegrenzt wurden. (2020)

Frauen im Filmbusiness – Interview mit Grit Lemke
Die Gesprächspartnerinnen der AVIVA-Interviewreihe "Frauen im Filmbusiness" berichten über ihre Erfahrungen, Arbeit und Erwartungen. Grit Lemke ist seit 1991 für DOK Leipzig tätig, seit 1998 arbeitet sie auch für das Festival des osteuropäischen Films Cottbus, sie hat Lehraufträge und hält Gastvorträge, publiziert zu und arbeitet an Dokumentarfilmen. (2015)


Literatur

Beitrag vom 24.12.2021

Helga Egetenmeier