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Beitrag vom 29.04.2021
Joshua Sobol - Der große Wind der Zeit
Sigrid Brinkmann
Eine junge israelische Verhörspezialistin verlässt die Armee und studiert ihre Familiengeschichte. An vier Generationen entlang entwirft der israelische Schriftsteller Joshua Sobol in seinem neuen Roman ein komplexes Gesellschaftspanorama Israels. Aus dem Hebräischen von Barbara Linner.
Gelebtes Leben, neu geträumt
Der israelische Schriftsteller Joshua Sobol arbeitet unermüdlich: Die Liste der Theaterstücke, die er geschrieben und oft auch selber an internationalen Bühnen inszeniert hat, ist ellenlang, dazu kommen Drehbücher, Romane und Erzählungen. (Unvergessen ist sein Stück "Ghetto", das Peter Zadek 1984 als Musical auf die Bühne brachte, dem Schauspieler Ulrich Tukur zum Durchbruch verhalf und in 25 Ländern aufgeführt wurde.) Die Kriege des 20. Jahrhunderts und die Ursachen für Feindschaft im Nahen Osten sind Stoffe, die in Sobols Werken wiederkehren. Der Titel seines jüngsten Romans klingt auch so, als ginge es darum, weit auszuholen:
Eine junge Israelin, die während ihres Wehrdienstes Hunderte von Attentätern und deren Handlanger verhörte, steht im Mittelpunkt von Joshua Sobols neuem Roman. Auf die Geständnisse folgten "Haft. Hauszerstörung. Vergeltungsanschlag. Untersuchungshaft. Verhör. Prozess. Hauszerstörung". Die immer gleiche Kette von Strafmaßnahmen höhlt Libbys Leben aus. Sie verlässt die Armee und sucht Ruhe im Haus ihres abwesenden Großvaters.
Ihr letzter Fall – die Überprüfung eines Palästinensers mit britischem Pass, der in Coventry über die Geschichte des Zionismus promoviert – könnte ihr Leben verändern. Sobol belässt es klugerweise bei Andeutungen, denn bis heute weigern sich Teile der israelischen und palästinensischen Gesellschaft, zweierlei Geschichtsnarrative anzuerkennen, viele Gutwillige resignieren.
Lebensfäden von zwei Dutzend Personen
Libby gehört zur vierten Generation einer aschkenasisch-jemenitischen Familie. Ihre Vorfahren kamen aus Österreich und Afrika "ins Land", zu einer Zeit, als die judäischen Berge noch unbewohnt waren und mit "rostigen Gewehren bewaffnete Hirten langhaarige Ziegen bewachten". Die Nachkommen der zionistischen Pionierinnen und Pioniere bewirtschaften Land in einer Siedlung, sie arbeiten als Ingenieur:innen und einer strebt sogar das Amt des Ministerpräsidenten an.
Joshua Sobol verwebt die Lebensfäden von zwei Dutzend Personen, die einander brauchen, sich betrügen und belügen. Sarkastisch lässt er die männlichen Charaktere straucheln. Sie sind verblendete, leicht erpressbare Dilettanten, die sich für clevere Strippenzieher und begehrenswerte Liebhaber halten. Selbst Minderjährige nutzen Sex ungerührt als Mittel zum Zweck und setzen in witzigen, abgebrühten Dialogen ihre moralisch verdorbenen Eltern schachmatt.
Ein Kibbuz hat Erfolg an der Börse
Hundert Jahre Geschichte fächert Joshua Sobol in seinem ambitionierten und ungeheuer lebendig erzählten Roman auf. Spielend leicht verschränkt er die Vergangenheit mit der Gegenwart: Ein Kibbuz, dem im Unabhängigkeitskrieg 1948 die vollständige Zerstörung drohte, ist heute an der Börse erfolgreich. Die für ihre anspruchslose Lebensweise bekannten, früher rigoros auf das Kollektiv eingeschworenen Kibbuzmitglieder wissen nicht – anders als ihre Verwandten –, was sie mit dem Gewinn anfangen sollen.
Und eine Tel Aviver Nachtschwärmerin wirkt wie die Wiedergängerin ihrer Urgroßmutter, die als Tänzerin im Berlin der 1930er-Jahre eine Affäre mit "dem Lederjackett" hatte. Man spürt die Lust des Theatermachers Sobol, die unschwer als Bertolt Brecht zu erkennende Legende zu demontieren. Das Gebaren des eitlen, manipulativen Dramatikers ist zum Lachen.
Beim Erzählen konzentriert sich Sobol auf drei Persönlichkeiten. Es sind Libby, ihr Großvater Uri und dessen Mutter, die unverheiratete Tänzerin Eva Ben-Chaim. Mit ihrem Partner baute sie 1942 die deutsche und die arabische Abteilung des jüdischen Kampfverbandes Palmach auf, um den befürchteten Einmarsch von Rommels Truppen in Palästina abzuwehren. Libby vertieft sich in herumliegende Tagebücher ihrer Urgroßmutter und tritt in einen inneren Dialog mit ihr.
Ein Appell, sich für "die Anderen" zu interessieren
In diesen Passagen zeigt sich die ganze Kunst des Dramatikers und Romanciers Joshua Sobol. Entscheidungen werden hinterfragt und gelebtes Leben neu geträumt. Unausgesprochene Aufträge werden erkannt. Libby versteht, welches Erbe der Großvater ihr hinterlassen wird. Er ist noch immer – anders als seine Söhne – freundschaftlich verbunden mit Palästinensern seines Alters.
AVIVA-Tipp: In "Der große Wind der Zeit" steckt der Appell an junge Israelis und Palästinenser, sich endlich für das Leben, die Geschichte und die Zukunft "der Anderen" im Land zu interessieren.
Zum Autor: Joshua Sobol ist am 24. August 1939 in Tel Mond, Israel geboren. Von 1957 bis 1965 lebt er in einem Kibbuz und beginnt dort Literatur, Geschichte und Philosophie zu studieren und promoviert anschließend an der Sorbonne. "Les jours a venir", sein erstes Stück, wurde 1971 am Theater in Haifa uraufgeführt. Schon in diesem, verstärkt aber in den darauffolgenden Stücken versucht Sobol "die schwierige Beziehung zwischen Judentum, dem Staat Israel und dem Zionismus auszuloten." Dabei geht er von historischen Sujets aus, die er mit der israelischen Gegenwartsgesellschaft in Beziehung setzt. Der internationale Durchbruch gelingt Sobol 1983 mit dem Stück "Weiningers Nacht". 1984 erlebt sein Stück "Die Palästinenserin" in Haifa seine Uraufführung welches in Israel zum Zeitstück des Jahrzehnts wird. Eine Viertelmillion Zuschauerinnen und Zuschauer -das ist ein Zehntel der erwachsenen israelischen Bevölkerung- sehen diese Inszenierung.
Von 1984 bis 1989 entstehen die Dramen "Ghetto", "Adam" und "Untergrund", die zusammen das "Ghetto-Tryptichon" bilden. Vor allem "Ghetto", das der Autor selbst als "Erfahrung einer Gemeinschaft angesichts des Todes" sah, sorgte in der europäischen Erstaufführung von Peter Zadek an der Freien Volksbühne Berlin für Furore. "Theater heute" wählte das Stück, das insgesamt in 19 Sprachen übersetzt wurde und in mehr als 22 Ländern gespielt wurde, zum besten ausländischen Stück des Jahres, in Großbritannien war es 1989 "Play of the Year". 1988 sorgte sein nächstes Stück "Das Jerusalem-Syndrom" für große Proteste - u.a. wird Sobol von einem Abgeordneten der Knesset zum Selbstmord aufgefordert -, daß er seine Tätigkeit am Theater in Haifa, dessen künstlerischer Leitung er 1984 übernommen hatte, aufgab. Er geht mit seiner Familie nach London, kehrt aber vier Jahre später nach Israel zurück. Von da an ist er zunehmend auch im Ausland tätig und inszeniert seine Stücke, so z. B. 1992 "Ghetto" in Essen. 1995 nimmt er die erfolgreiche Zusammenarbeit mit Paulus Manker, der schon "Weiningers Nacht" inszeniert hatte, für die Wiener Festwochen wieder auf. In der Zeit bis 1999 entstehen noch zahlreiche weitere Theaterstücke. "Schweigen" ist sein erster Roman. Bei Luchterhand erschienen die Romane "Schweigen" und "Whisky ist auch in Ordnung".
Zur Übersetzerin: Barbara Linner, geb. 1955 in München, studierte Judaistik, Orientalistik und südosteuropäische Geschichte. Sie ist Übersetzerin von u. a. David Grossman, Batya Gur, Judith Katzir, Jehoschua Kenaz, Etgar Keret, Joshua Sobol.
Joshua Sobol
Der große Wind der Zeit
Originaltitel: Chufschat schichrur
Originalverlag: Hakibbuz hame´uchad
Aus dem Hebräischen von Barbara Linner
Luchterhand Verlag, erschienen am 26. April 2021
Hardcover mit Schutzumschlag, 528 Seiten, 13,5 x 21,5 cm
ISBN: 978-3-630-87573-6
24 Euro
Mehr Infos unter: www.penguinrandomhouse.de
Der Beitrag ist zuerst erschienen auf DLF Kultur: Buchkritik | Beitrag vom 27.04.2021. Den Beitrag können Sie hören unter: www.deutschlandfunkkultur.de
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