Danielle de Picciotto. Die heitere Kunst der Rebellion. Eine Graphic Novel über die Geburt des neuen Berlin - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur





 

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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 12.01.2021


Danielle de Picciotto. Die heitere Kunst der Rebellion. Eine Graphic Novel über die Geburt des neuen Berlin
Christina Mohr

Die wirkliche Wiedervereinigung fand auf dem Dancefloor statt, lautet Danielle de Picciottos These – erlebbar gemacht in ihrer Graphic Novel über die Berliner Clubkultur. Lag es an den Kohleöfen, dass im winterlichen Berlin der späten Achtziger und frühen Neunziger die Clubs immer so voll waren? Danielle de Picciotto wohnte selbst …




... zwar nie in einer dieser Altbauwohnungen mit den schönen, aber nur mühsam beheizbaren Kachelöfen, erinnert sich aber sehr gut daran, dass die Leute nicht zuletzt deshalb zum Tanzen in die Clubs strömten, weil niemand Bock auf Kohleschleppen hatte.

Die Seiten mit – gezeichnetem – Kohlenkeller und verschiedenen Ofenmodellen sind nur einige Mosaiksteinchen in de Picciottos detailreicher Geschichte der oder besser Liebeserklärung an die Berliner Clubkultur, die die Künstlerin und Autorin qua Buchtitel mit der Entstehung eines "neuen Berlin" gleichsetzt. Bücher über Berlin und seine unerschöpflich vielfältige Kunstszene gibt es zuhauf, doch nur selten ist die persönliche Geschichte so eng mit dem kulturellen Geschehen verknüpft wie in "Die heitere Kunst der Rebellion", von de Picciotto als Graphic Novel konzipiert und liebevoll umgesetzt.

So streift frau mit der Autorin durch die so düstere wie faszinierende Kneipenszenerie der späten Achtziger, als Nick Cave und Blixa Bargeld gemeinsam am Tresen abhingen – damals natürlich nur in Westberlin. Mit dem Mauerfall eröffnete sich buchstäblich eine neue Welt: Ostberlin und seine oftmals stark heruntergekommenen Gebäude wurden zur Spielwiese für Bohemiens und Künstler:innen. Und eine neue Musik trat ihren Erfolgszug an: Techno kam ursprünglich aus Detroit und fiel gerade in den Abbruchhäusern (Ost-)Berlins auf äußerst fruchtbaren Boden, vereinte enthusiastische Tänzer:innen aus Ost und West.
Aber ob Wave oder Elektronik: Die neugierige, umtriebige Danielle, Mitte der Achtziger aus New York City nach Berlin umgezogen, war (und ist) immer mittendrin.

Als Köchin und Kellnerin in einschlägigen Bars zum Beispiel – vor allem aber als kreative Gestalterin. Mit selbst entworfener Deko stattete sie Parties und Veranstaltungen aus, ihre aufwendigen Kleider wurden auf Modenschauen gezeigt. Die traditionell schwarz tragende Berliner Untergrundszene etwas bunter zu machen war ihr Ziel – nicht immer ganz einfach, wie sie ausgerechnet bei ihrem großen Coup erkannte. Als sie 1989 – inspiriert von den brasilianischen Karnevalsumzügen – mit ihren damaligen Freund Matthias Roeingh (besser bekannt als Dr. Motte) die Berliner Love Parade ins Leben ruft, kann sie nur ein paar Freundinnen dazu überreden, ihre fantasievollen Kostüme zu tragen.

Wie diese Entwürfe aussahen und wie überhaupt fast alle(s) aussah(en) im Berlin der letzten gut 35 Jahre kann frau dank de Picciottos akribischer Notierung kultureller Trends und Highlights nachvollziehen. Im Buch Die heitere Kunst der Rebellion, gezeigt mit Zeitungsausschnitten aus ihrem umfangreichen Archiv, überwiegend jedoch mit ihren Zeichnungen, ergänzt durch ausführliche Textteile. So entsteht ein überbordendes Bilderbuch, in dem besagte Kohleöfen und Dr. Mottes Krawattensammlung ebenso gezeigt werden wie die vielen Protagonist:innen der Kulturszenerie. De Picciottos besonderes Verdienst: Sie räumt den Frauen die längst verdienten Plätze ein – und zwar ganz selbstverständlich und gleichberechtigt neben den männlichen Kollegen, nicht als Nischenthema (á la "Kunst von Frauen"). So begegnet die Leserin vielen bekannten Künstlerinnen wie Francoise Cactus, Gudrun Gut oder Christiane Rösinger, aber auch Leute, deren Namen frau nicht sofort parat hat wie Regina Baer, ehemalige Geschäftsführerin des Tresor oder Carola Stoiber, Mitbegründerin des UFO-Clubs, die heute eine Künstler:innenagentur leitet.

AVIVA-Tipp: "Die heitere Kunst der Rebellion" ist eine persönliche, detaillierte und liebevolle Huldigung der Berliner Clubkultur – mit besonderem Augenmerk auf die Innovatorinnen, ohne die keine Szene möglich wäre.
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Biographie: Danielle de Picciotto wurde in Tacoma, Washington geboren. Mitte der 1980er Jahre zog sie von NYC nach Berlin, mit ihrem damaligen Freund Dr. Motte erfand sie die Berliner Love Parade. Sie wurde Sängerin der Berliner Band Space Cowboys und begann ab 2001 mit Alexander Hacke (Einstürzende Neubauten) als HackeDePicciotto zusammenzuarbeiten. Außerdem initiiert sie als Künstlerin und Musikerin zahlreiche Soloprojekte. Bisher sind zwei Bücher von ihr erschienen: We are Gypsies Now und The Beauty of Transgression. A Berlin Memoir die beide auf AVIVA-Berlin rezensiert wurden.
Danielle de Picciotto im Netz: www.danielledepicciotto.com

DANIELLE DE PICCIOTTO
Die heitere Kunst der Rebellion. Eine Graphic Novel über die Geburt des neuen Berlin
208 Seiten, einfarbig / sw, gebunden
ISBN 978-3-946896-53-1
WALDE&GRAF
Verlagsagentur und Verlag GmbH
verlag.walde-graf.de

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Danielle de Picciotto – Deliverance
Danielle de Picciotto ist eine der produktivsten Künstlerinnen hierzulande: Das mit ihrem Ehemann Alexander Hacke aufgenommene Meditationsalbum "Joy" erschien im vergangenen Jahr, 2017 veröffentlichte sie "Leise Fäden", eine Gemeinschaftsproduktion mit der Kölner Elektro-Künstlerin Sonae. (2019)

Danielle de Picciotto & Sonae - Leise Fäden
Danielle de Picciotto und Sonae sind eigentlich Solokünstlerinnen, beide veröffentlichen ihre Musik auf Gudrun Guts Label Monika Enterprise. Das Minialbum "Leise Fäden" ist ihre erste gemeinsame Produktion. (2017)

Danielle de Picciotto – Tacoma
Atmosphäre, das könnte ein Schlüsselbegriff für all die Projekte sein, an denen Danielle de Picciotto mitgewirkt oder die sie ins Leben gerufen hat. In ihrem gezeichneten Buch "We are Gypsies now" ging es unter anderem um die Atmosphären verschiedener Städte, und in ihrem autobiografischen Roman "The Beauty of Transgression" zeichnete sie die Atmosphäre des alten, vergangenen West-Berlin nach. (2015)

AVIVA-Interview mit Danielle de Picciotto – We are Gypsies now
We are Gypsies Now – Der Buchtitel sagt alles: Die Autorin, Multimedia-Künstlerin, Musikerin und Filmemacherin de Picciotto beschreibt in ihrem kürzlich erschienenen Graphic Diary das Experiment, auf einen festen Wohnsitz zu verzichten und sich auf die Suche nach einem neuen Lebensmittelpunkt, aber auch nach dem eigenen Selbst zu begeben. (2013)

Danielle De Picciotto - The Beauty of Transgression. A Berlin Memoir
Berlin 1987. Ein Geheimtipp für alle, die sich nicht anpassen wollen. Doch schon bald kommen gewaltige Veränderungen auf die geteilte Stadt und ihre Kulturszene zu. Ein spannendes Stück Underground-Geschichte! De Picciotto beschreibt die Wende und ihre Folgen aus der Sicht einer Frau, der sich trotz zahlreicher Hindernisse immer wieder neue Möglichkeiten auftun. (2011)


Literatur

Beitrag vom 12.01.2021

Christina Mohr