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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 26.06.2020


Mary MacLane - Ich erwarte die Ankunft des Teufels
Christina Mohr

Eine zornige junge Frau, die aus der Verachtung für ihre Lebensumstände keinen Hehl macht – das ist nicht etwa die Ausgangssituation einer zeitgenössischen Autobiografie, sondern der Plot von Mary MacLanes eindrucksvollem Buch aus dem Jahr 1901, "Ich erwarte die Ankunft des Teufels"...




… das von seinem ersten Verleger – immerhin wurde es veröffentlicht! - unter dem ungleich braveren, unverfänglichen Titel "The Story of Mary MacLane" herausgebracht wurde.

Mary MacLane jedoch betont mehrfach, ihre Niederschrift sei mitnichten ein Tagebuch, vielmehr die Darstellung ihres einzigartig komplexen, genialen Charakters, wie es noch nie einen zuvor auf Erden gegeben hat. Frau ahnt schon jetzt: es kann anstrengend werden mit Mary aus dem Geschlecht der schottischen Hochland-MacLanes, geboren anno 1881 in Winnipeg, verdammt dazu, in der langweiligen Bergarbeiterstadt Butte, Montana zu leben, in "Sand und Ödnis, Ödnis und Sand".

Übersetzerin Ann Cotten schreibt im Nachwort, MacLane sei ihr "wie eine Schwester" geworden, deren Kraft sie spürt, aber auch ihre Fehler sieht, mit der frau auch eine gewisse Ungeduld verspürt, nicht zuletzt wegen ihrer Redundanzen und Eitelkeiten. Sprich: Mary MacLane ist ein egozentrische Nervensäge. Außer einer aus dem Rahmen fallenden, dabei geradezu soziologisch versierten Beschreibung der Bevölkerung von Butte hat "Ich erwarte die Ankunft des Teufels" nur ein Subjekt: Mary MacLane. Im Vergleich mit der von ihr verehrten russischen Malerin und Schriftstellerin Marie Bashkirtseff schneidet MacLane selbst freilich besser ab: "Ja, ich ähnele ihr in manchen Punkten, hat man mir gesagt. Aber in den meisten gehe ich über sie hinaus. Wo sie tiefgründig ist, bin ich tiefgründiger. Wo sie wunderbar leidenschaftlich ist, bin ich noch viel leidenschaftlicher (...)".

Undsoweiter. Doch Größenwahn ist nur eine Facette des in der Tat komplexen und genialen Charakters von Mary MacLane: Belesen ist sie, hochgebildet – und weiß genau, dass sie einige Jahre zu früh geboren ist, um als intellektuelle Frau ernst genommen zu werden. Über das jugendliche Alter der Autorin staunt frau in beinah jedem Satz: Mary MacLane hat ein perfektes Gespür für Dramatik und Komposition, ihr Text wogt und stürmt, ist wütende Litanei und repetitiver Klagegesang - um dann scheinbar friedlich abzuebben. Zwischen Kunst und Komik changieren ihre detaillierten Körperexkurse: regelrecht verliebt huldigt sie ihren inneren Organen, ihrem "guten jungen Frauenkörper" - und niemand aß wohl je eine Olive wie Mary MacLane: "Die goldenen Augenblicke flattern vorüber, ich beachte sie nicht. Sitze ich nicht bequem und esse eine Olive? - Gehen Sie und erhängen Sie sich, wenn Sie noch nie bequem gesessen und eine Olive gegessen haben (…) Es ist nun eine absolute Monarchie mit der grünen Olive auf dem Thron.Die Küsse der Magensäfte werden heiß und sinnlich, zuckend, ekstatisch (…)."

Bei aller Überspanntheit schätzt Mary MacLane ihre Lage stets völlig realistisch ein. So beschreibt sie in völliger Verzückung ihre geliebte Lehrerin und "einzige Freundin", die sie unverhohlen erotisch-romantisch "Anemonendame" nennt – und doch ist ihr klar, dass die Anemonendame sie nicht zurückliebt, dass ihre Sehnsucht ins Leere zielt. Aus diesem und vielen anderen Gründen ist Mary MacLane bereit für die Ankunft des Teufels, eines "Mann-Teufels" übrigens: MacLane wird sich später als bisexuell bezeichnen, hält die traditionell heterosexuelle Ehe für eine der verachtungswürdigsten gesellschaftlichen Konventionen. Von irdischen Männern hält sie nicht viel, außer von Napoleon, von dem sie siebzehn Bildnisse besitzt, die sie des Abends liebevoll betrachtet und Charakterisierungen erstellt – wenn sie nicht gerade eine Olive isst, siehe oben, oder ein Fondant zubereitet, wie es nur Mary MacLane zubereiten kann.

AVIVA-Tipp: Am Ende des schmalen Bands kann frau nicht anders, als Mary MacLane zuzustimmen: Ja, sie ist anstrengend und überspannt – aber zuallererst ein genialer und komplexer Charakter. "Ich erwarte die Ankunft des Teufels" machte die knapp Zwanzigjährige zu einem Star ihrer Zeit, einer feministischen Ikone, die damals natürlich noch nicht so genannt wurde. Die Wiederveröffentlichung dieses Buches ist ein seltener Schatz, Zeugnis eines freien Geistes, einer unerschrockenen Kämpferin für Freiheit und Selbstbestimmung.

Über die Autorin: Mary MacLane (1881 – 1929) wurde in Winnipeg, Kanada geboren, zog aber bald mit ihrer Familie in die Bergarbeiterstadt Butte in Montana, USA um. Mit ihrem ersten Buch wurde sie schlagartig berühmt, weitere autobiographische Texte folgten, ebenso ein Skript für einen Stummfilm ("Men Who Have Made Love to Me", 1918), in dem sie selbst die Hauptrolle spielte. Die sich schon früh zu ihrer Bisexualität bekennende Bohemienne MacLane starb 48-jährig in Chicago.

Mehr Informationen zu Mary MacLane auf: "The Women Film Pioneers Project (WFPP) wfpp.columbia.edu/pioneer/ccp-mary-maclane

Mary MacLane
Ich erwarte die Ankunft des Teufels

Originaltitel: The Story of Mary MacLane
Aus dem Amerikanischen übersetzt und mit einem Nachwort von Ann Cotten
Mit einem Essay von Juliane Liebert
Reclam, Stuttgart 2020
ISBN 978-3-15-011256-4
www.reclam.de

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Beitrag vom 26.06.2020

Christina Mohr