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Beitrag vom 20.12.2019
Astrid van Nahl - Judith Kerr. Die Frau, der Hitler das rosa Kaninchen stahl
Doris Hermanns
Kurz bevor die Verfilmung ihres in Deutschland bekanntesten Romans "Als Hitler das rosa Kaninchen starb" in die Kinos kommt, ist eine erste Biografie der Kinderbuchautorin Judith Kerr erschienen, die als Kind mit ihrer jüdischen Familie vor den Nazis über die Schweiz und Frankreich nach Großbritannien ins Exil fliehen musste.
Ein Großteil der Lebensgeschichte von Judith Kerr ist sicher vielen bereits aus ihrer Romantrilogie mit autobiografischen Zügen bekannt, vor allem aus "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl", das von der Flucht aus Nazi-Deutschland berichtet, und das heute als Klassiker der Kinder- und Jugendliteratur gilt.
Judith Kerrs Vater, Alfred Kerr, war ein bekannter jüdischer Theaterkritiker im Berlin der Weimarer Republik, er war bereits im Februar 1933 nach Prag geflüchtet, noch vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten, da er gewarnt worden war, dass ihm sein Pass entzogen werden sollte. Seine Frau, die Komponistin Julia Weismann, flüchtete kurz danach mit den beiden Kindern in die Schweiz, von wo aus sie erst nach Frankreich und 1935 nach England emigrierten. Diese Zeit wird in der Biografie von Astrid van Nahl weitgehend aus der Sicht des Vaters und des Bruders Michael erzählt, die beide ausführliche Bücher geschrieben haben, was insofern verständlich ist, da Judith Kerr zu dieser Zeit noch ein Kind war. Aber bis zur Emigration nach England – Judith Kerr ist da gerade zwölf Jahre alt – sind wir bereits auf der Hälfte des Buches über ihr Leben und sie wurde immerhin 95 Jahre alt. Aber es zeigt sich auch ein Missverhältnis: Die Autorin der Biografie scheint den familiären Hintergrund der Kinderbuchautorin wichtiger zu finden, als deren weiteres Leben in England. Das Buch liest sich dann auch über weite Strecken eher wie eine Biografie der Familie als von Judith Kerr als Person.
Nicht nur wird immer wieder aus der Autobiografie des Bruders Michael Kerrs zitiert, sondern es wird auch wiederholt auf seine glänzende Karriere hingewiesen. Neben Wiederholungen unterlaufen der Autorin leider auch immer wieder Fehler. So schreibt sie über die Zeit in London, dass Michael Kerr weder in Deutschland noch in der Schweiz Latein gelernt habe – obwohl sie vorher über seine Schweizer Schulzeit schrieb, dass er bereits dort Latein aufzuholen hatte.
Bereits während des Zweiten Weltkriegs konnte Judith Kerr neben ihrer Arbeit beim Roten Kreuz erste Kurse in Zeichnen und Malen belegen, arbeitete aber nach später erst einmal bei der BBC, wo sie Manuskripte beurteilte und ihren späteren Mann, den Autor Tom Kneale, kennenlernte, mit dem sie zwei Kinder bekam. Sie blieb in Großbritannien, fühlte sich als Engländerin, schließlich hätte das Land ihr das Leben gerettet, das würde sie niemals vergessen.
Erst als die Kinder in der Schule gingen, fing Judith Kerr an zu schreiben – und ihre Bücher auch zu illustrieren. Gleich ihr erstes Buch "Der Tiger, der zum Tee kam" wurde ein großer Erfolg. Die Geschichte hatte sie sich mit ihrer Tochter Tacy zusammen nach einem Besuch im Zoo ausgedacht, aber erst Jahre später zu Papier gebracht. Es folgte die 17-bändige Serie über die Katze Mog, aus der im Deutschen merkwürdigerweise ein Kater wurde. In diesen Kinderbüchern konnte sie sich in verschiedenen Formen ausprobieren.
Als sie ihren Kindern, die damals neun und zwölf Jahre alt waren, über ihre Kindheit erzählen wollte, beschloss sie, ein Buch darüber zu schreiben: das berühmte "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl". Darin erzählt sie die Geschichte ihrer Flucht bis zu Ankunft der Familie in London. Nicht nur erhielt es den Deutschen Jugendbuchpreis, es ist seither für zahlreiche Kinder Pflichtlektüre an Schulen geworden. Es folgten zwei weitere autobiografische Bände, die die Geschichte im und nach dem Krieg weitererzählen. Während sie in Deutschland aufgrund dieser Trilogie, vor allem dem ersten Band, bekannt ist, ist sie in ihrer neuen Heimat für ihre Kinderbücher über den Tiger, der zum Tee kommt, und die Katze Mog weit berühmter.
Judith Kerr starb am 22. Mai 2019 im Alter von 95 Jahren und konnte, wie sie sagte, auf ein "erstaunlich glückliches und erfülltes Leben" zurückblicken.
Im zweiten Teil des Buches wirkt es störend, in welchem Umfang immer wieder auf Judith Kerrs Autobiografie "Geschöpfe. Mein Leben und Werk" (erschienen 2018 in der edition memoria) hingewiesen wird. Mit Formulierungen wie "Judith Kerrs Erinnerungen verweilen nun eine Zeitlang …" liest sich das Buch teilweise wie eine ausführliche Zusammenfassung der Autobiografie. Zudem weist die Autorin immer wieder auf Illustrationen aus diesem Buch hin, die sie ausführlich beschreibt. Vorstellbar ist durchaus, dass es für die Abbildungen keine Abdruckrechte gab, aber so ist es praktisch, die "Geschöpfe" als Ergänzung neben sich liegen zu haben, um ein wirkliches Bild von Kerrs Schaffen zu bekommen.
So sehr ich mich auf diese Biografie gefreut hatte, nach dem Lesen der Autobiografie Kerrs "Geschöpfe" fügte sie nichts Wesentliches zu ihrem Leben hinzu und war eher enttäuschend. Van Nahl hat den Schwerpunkt eindeutig auf den Familienhintergrund, die Zeit in Deutschland sowie Kerrs Fluchterfahrungen gelegt. Dabei kommt ihr Erwachsenenleben sowie ihr gesamtes Werk eindeutig zu kurz, vor allem die Bedeutung, die sie als vielfach ausgezeichnete Autorin in Großbritannien hat. Vieles wird kurz angesprochen, aber nicht weiter vertieft. Ein Beispiel: Astrid van Nahl schreibt, dass alle Deutschen in das Internierungscamp auf der Isle of Man gebracht wurden, so auch Michael Kerr – und belässt es dabei, statt zumindest zu erwähnen, dass der Rest der Familie nicht interniert wurde, auch wenn sich vielleicht nicht klären lässt, warum nicht. Solche Widersprüche bzw. nicht ausgesprochene Undeutlichkeiten finden sich im ganzen Buch.
Am 25. Dezember 2019 kommt die Verfilmung von "Als Hitler das rosa Kaninchen stahl" ins Kino. Nähere Infos dazu unter: www.warnerbros.de
AVIVA-Fazit: An sich ist es natürlich erfreulich, dass nun eine Biografie der Kinder- und Jugendbuchautorin und Illustratorin Judith Kerr im Deutschen vorliegt, aber sie eignet sich eher als Einstieg bzw. Ergänzung zu deren Autobiografie "Geschöpfe" denn als eigenständiges Werk. Der Schwerpunkt liegt deutlich auf dem Familienhintergrund, der Zeit in Deutschland und der Exilerfahrung, ihr Lebenswerk als Zeichnerin und Autorin kommen dabei zu kurz und werden zu wenig gewürdigt.
Zur Autorin: Astrid van Nahl hat das Online-Magazin alliteratus.com gegründet, das Informationen, Beratung und Empfehlungen im Bereich der Kinder- und Jugendliteratur bietet. Sie war wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten Bonn, Saarbrücken und Bochum. Heute ist sie Lehrbeauftragte für Isländische Sprache und Sprachgeschichte an der Universität Bonn und arbeitet als Autorin und Fachübersetzerin. (Verlagsinformation)
Astrid van Nahl
Judith Kerr: Die Frau, der Hitler das rosa Kaninchen stahl
wbg Theiss Verlag, erschienen 29.07.2019
Hardcover mit Schutzumschlag. 256 Seiten mit Lesebändchen und mit 20 Schwarz-Weiß Fotos
ISBN 978-3-8062-3929-4
Euro 25,00
Mehr zum Buch unter: www.wbg-wissenverbindet.de
Ein Porträt von Judith Kerr auf FemBio: www.fembio.org
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Herzlichen Glückwunsch zum 93. Geburtstag, Judith Kerr Am 14. Juni ist der Geburtstag von "the tigermother". Unter diesem Namen kennt sie in Großbritannien jedes Kind. "The Tiger who came to Tea" ist ihr bekanntestes Kinderbuch. Die Flucht vor den Nazis prägte die Bestseller-Autorin Judith Kerr ("Als Hitler das rosa Kaninchen stahl"). (2016)
Kristine von Soden - Und draußen weht ein fremder Wind .... Über die Meere ins Exil
Wie gelang den wenigen Überlebenden 1933 bis 1941 die Flucht ins Ungewisse, was ging dem Verlust um Heimat, Familie, Sprache und Kultur voraus? Im Zentrum dieses Buches steht der verzweifelte Kampf jüdischer Emigrantinnen um Visa und Affidavits für das von den Nazis erzwungene Exil. Anhand von Tagebüchern, Briefen, Gedichten sowie unveröffentlichten Bild- und Textdokumenten und literarischen Zeugnissen aus den im Deutschen Exilarchiv in Frankfurt am Main befindlichen Nachlässen jüdischer Emigrantinnen zeichnet die Autorin die dramatischen Umstände der individuellen Fluchtwege akribisch nach. Unter der Auswahl der portraitierten jüdischen Emigrantinnen ist auch Judith Kerr (2017)