AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 -
Beitrag vom 25.10.2019
Nora Gomringer – Monster, Morbus, Moden
Saskia Balser
Die Poetry-Slammerin, Lyrikerin und Bachmannpreisträgerin Nora Gomringer setzt in ihrem neuesten Gedichtband die "Trilogie der Oberflächen und Unsichtbarkeiten" zusammen. In "Monster, Morbus, Moden" widmet sie sich jeweils einem speziellen Thema, welches sie literarisch und dank passenden Illustrationen von Reimar Limmer auch künstlerisch in Szene setzt.
"Nora Gomringer macht das Gedicht. Aus." So knapp und bestimmt formuliert präsentiert sich die schweizerisch-deutsche Lyrikerin auf ihrer Website. Seit fast 20 Jahren veröffentlicht sie ihre Texte, die von Lyrik, über Poetry Slam bis hin zu Prosa reichen. Vertonungen ihrer Werke übernimmt Gomringer selbst: Seitdem sie 2006 mit "Sag doch mal was zur Nacht" das erste Mal einen Gedichtband im Voland & Quist Verlag veröffentlichte, liegt den Büchern oft eine Audio-CD bei, auf denen die Autorin ihre Texte selbst liest.
Vielleicht ist es unter anderem diese jahrelange Übung des Lautlesens und Vortragens, die dazu geführt hat, dass Nora Gomringer 2015 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Bei der dreitägigen Lese-Veranstaltung "Tage der deutschsprachigen Literatur" in Klagenfurt hat sie mit ihrem Prosatext "Recherche" eine der wichtigsten literarischen Auszeichnungen im deutschen Sprachraum erhalten.
Ihr jüngst erschienene "Trilogie der Oberflächen und Unsichtbarkeiten" versammelt die Texte ihrer letzten Gedichtbände und setzt diese zueinander in Beziehung. Jedes Gedicht wird zusätzlich durch Illustrationen von Reimar Limmer visualisiert, weitergedacht, ergänzt und wird dadurch für Leser*innen noch zugänglicher. Wer das Buch aufschlägt, die Texte liest, die Bilder betrachtet und die Vertonungen auf der beigelegten CD hört, erlebt Lyrik, wie sie heute ist: modern, vielfältig, kreativ. Nora Gomringer gehört nicht ohne Grund zu den lautesten Stimmen der zeitgenössischen deutschen Lyrik-Szene. Schon ihr Vater Eugen Gomringer, der als Begründer der Konkreten Poesie gilt, hat das Genre "Lyrik" mit seiner experimentalen Herangehensweise gesprengt und scheint diesen Ansatz an seine Tochter weitergegeben zu haben.
In den drei Gedichtbänden, die das neue Buch umfasst, beleuchtet die Autorin verschiedene Themen, ihr unverkennbarer Stil und die teils ironischen, lustigen, teils bitterernsten Illustrationen machen dabei jeden Text zum Erlebnis.
Monster Poems
"Sylvia und Norman teilen sich ein Zimmer in einer großen amerikanischen Stadt. Sie backt, und manchmal – übermannt von Traurigkeit – steckt sie den Kopf gleich mit in die Röhre. Norman trägt ihre Kleider, während sie auf der Geschlossenen nicht recht gesund werden will."
In ihrem Text namens "P" bringt Nora Gomringer zwei bekannte Figuren aus Film- und Literaturgeschichte zusammen: Die Schriftstellerin Sylvia Plath und den fiktiven Norman Bates, die Hauptfigur aus Alfred Hitchcocks "Psycho". Es ist nicht das einzige Mal, dass sich die Lyrikerin der Verwendung prominenter Namen bedient: In ihrem Gedichtbuch lässt sie Ungeheuer wie Dracula, King Kong und den Weißen Hai zum Leben erwachen und unter anderem mit "Richard The Gere", Julia Roberts und Dorian Gray interagieren. Eingeleitet von dem berühmten Shakespeare Zitat "Hell is empty / and all the devils are here" weist Gomringer mit ihren "Monster Poems" sowohl auf die Monster um uns herum als auch das Monströse in uns selbst hin: "das Mädchen war ich / sortiert hast du mich / so spricht das Monster / das Monster bin ich".
Sie übt Gesellschaftskritik, die auch vor dem Anprangern bestehender Machtverhältnisse keinen Halt macht. In "Debütantin" beklagt Gomringer die verqueren Erwartungen, die an Frauen auch im 21. Jahrhundert noch gestellt werden, sollen sie doch "laut im Bett / kalt an der Hand /.../ verführend, singend" sein. Die Autorin wehrt sich entschieden gegen diese Zuschreibungen und widmet diesen Text "allen, denen / ich hier zu laut bin."
Leseproben, sowie Videos und Illustrationen zu den Texten sind online auf der eigens für den ersten der drei Gedichtbände kreierten Website www.mosterpoems.de verfügbar.
Morbus
In den Gedichten ihres Bandes "Morbus" untersucht Nora Gomringer die verschiedensten psychischen und physischen Krankheiten unserer Zeit. Sie spricht von Viren, Venen, Wunden, beleuchtet den Körper und dessen Verfall von allen Seiten in mitunter expressionistisch anmutenden Texten: "Und ich war sperrangelweit, / eine große Wunde mein Mund, / Zeugnis der Feste und Fülle."
Auch die Depression findet Einzug in Gomringers Lyrik. In ihrem Text "Plumbum" wird sie als "der schwarze Hund / das Kleid aus Blei / ... / das große Schweigen" charakterisiert. Die Autorin findet jedoch einen, wenngleich medizinisch herbeigeführten, Weg hinaus aus der Schwere: "Die Droge hilft / der Tag wird hell / das Leben: Traum."
Moden
Nicht mehr der Körper, sondern das, worin er steckt, steht in Nora Gomringers Fokus in ihrem die Trilogie vollendenden Band "Moden". Sich im Laufe der Zeit wandelnde Kleidungs-, Frisuren- und Schönheitsideale werden von ihr geprüft und literarisch durchleuchtet. Dabei entstehen Gedichte wie "Hair. Long as God can grow it", "Abschied vom emanzipierten Rock", "Uniform" und "Dirndl". In letzterem tauchen Zeilen wie "Die Brüste blühen Knospen / und die Hälse Knöpfe" auf, die von Reimar Limmers dazugehöriger Illustration in einer Collage dargestellt werden: Zu sehen ist ein Dirndl, aus dem unten Frauenbeine herausragen, statt eines Dekolletés wachsen jedoch Blumen oben aus dem Kleid heraus. Wieder einmal ist Gomringers Lyrik nicht einfach nur schön zu lesen, sondern transportiert auch eine kritische Aussage, wenn sie schreibt "An diesem Kleid sieht jeder, / was er sehen soll."
AVIVA-Tipp: Dass Lyrik nicht nur etwas für den Deutschunterricht oder die ältere Generation ist, beweist Nora Gomringer mit ihren Texten schon seit Jahren. Auch ihre neueste Trilogie vereint Poesie, die mal radikal, politisch, herausfordernd und mal sanft, ästhetisch und amüsant ist. Ihre Lyrik, egal ob gelesen oder gehört, macht Spaß, darf aber auch ernst genommen werden, da sie längst nicht mehr in eine Nische gehört, sondern ein breites Publikum und nicht zuletzt die Bachmann-Preis-Jury begeistert.
Zur Autorin: Nora Gomringer hat zahlreiche Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Venedig, New York, Ahrenshoop, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt. 2015 erhielt sie den Ingeborg-Bachmann-Preis und 2019 war sie Max-Kade-Professorin des Oberlin College and Conservatory in Ohio. Nora Gomringer lebt in Bamberg, wo sie das Internationale Künstler*innenhaus Villa Concordia als Direktorin leitet.
(Quelle: Verlagsinformation)
Mehr Infos unter: www.nora-gomringer.de und auf Facebook:
www.facebook.com
Zum Illustrator: Reimar Limmer ist seit seinem Kommunikationsdesign-Studium als Grafiker und Illustrator vor allem im Kulturbereich tätig. Seine Illustrationen zu Nora Gomringers Lyrik-Trilogie waren u.a. in Ausstellungen in Köln, Wien, Zürich und Hanoi zu sehen. Reimar Limmer lebt und arbeitet in Bamberg.
Mehr Infos unter: www.embargo-grafik.de
Nora Gomringer
Monster, Morbus, Moden
Buch + CD
Voland & Quist, ET: 30. September 2019
Gebunden, 176 Seiten
ISBN 978-3-863912-45-1
26 Euro
Mehr Infos zum Buch unter: www.voland-quist.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Sagte sie - 17 Erzählungen über Sex und Macht. Herausgegeben von Lina Muzur
Der vielschichtige Sammelband von Lina Muzur, stellvertretende Verlagsleiterin von Hanser Berlin und Teil des Redaktionskollektivs 10nach8 bei Zeit Online, zur #metoo-Debatte enthält Erzählungen von 17 zeitgenössischen Autorinnen von Nora Gomringer, Margarete Stokowski bis Helene Hegemann. (2018)
Ruth Klüger - Gegenwind. Gedichte und Interpretationen
In ihrem 2014 erschienenen Band "Zerreißproben. Kommentierte Gedichte" kommentierte und interpretierte die Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin, gefeierte Autorin, Feministin, Mutter, Großmutter, und Überlebende der Shoa Ruth Klüger ihre eigenen Verse über Gespenster, die sie heimsuchen. In "Gegenwind" deutete sie jeweils ein Gedicht älterer und moderner AutorInnen, von Adelbert von Chamisso bis Jane Hirshfield. (2018)
Herausgegeben von Gertrud Lehnert und Maria Weilandt - Ist Mode queer? Neue Perspektiven der Modeforschung
Selbstverständlich ist die Antwort auf diesen fragenden Titel komplex. Die Modeforscherin und Professorin für allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaften an der Universität Potsdam, Gertrud Lehnert, und ihre Co-Autor_innen haben sich der Herausforderung angenommen Queere Momente erstmalig in einer ersten deutschsprachigen Publikation zu fassen, so sehr dieses Festschreiben dem Ansatz des Queeren an sich widerspricht. Und sie setzen sich der brisanten Verbindung von progressivem, queerem Aktivismus, Kapitalismus und Mode aus. (2017)
Hannah Arendt - Ich selbst, auch ich tanze. Die Gedichte
Dass Hanna Arendt eine große Literaturliebhaberin war, zeigt sich schon an ihren vielen Freundschaften zu Schriftstellerinnen und Schriftstellern. Sei es die innige und bis an ihr Lebensende währende Freundschaft mit Mary McCarthy, die herzlichen Begegnungen mit Uwe Johnson, der sie incognito in seine "Jahrestage" einschmuggelte, oder mit dem österreichischen Autor Hermann Broch. (2016)
Jayrôme C. Robinet - Das Licht ist weder gerecht noch ungerecht
Es gibt wenige Autor*innen, auf die die Bezeichnung "Dichter*in" sich wirklich mit Berechtigung anwenden lässt. Jayrôme C. Robinet bezeichnet sich selbst als Spoken Word-Künstler. Tatsächlich ist er aber mehr: nämlich auch ein Dichter. (2015)
Der blaue Reiter ist gefallen. Else-Lasker-Schüler-Jubiläumsalmanach. Herausgegeben von Hajo Jahn
Zu ihrem 25-jährigen Bestehen hat die Else-Lasker-Schüler-Gesellschaft ihren elften Almanach herausgebracht. Er versammelt die Beiträge vom XX. ELS-Forum, das 2014, zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs vor 100 Jahren stattgefunden hat. (2015)
Zum Tod der Lyrikerin Sarah Kirsch am 5. Mai 2013
In ihren Gedichten schreibt sie von Schwänen, Pfingstrosen und Nebelfeldern, malt mit Metaphern mentale Bilder. Nach der Biermann-Ausbürgerung siedelt sie selbst in die BRD über und verfasst vor Deich- und Moorkulisse weiterhin Texte von großer poetischer Kraft und Schönheit. (2013)
Dichter und Kämpfer – das Leben als Poetryslammer in Deutschland. Kinostart: 6. September 2012
Regisseurin Marion Hütter hat sich in ihrem ersten Langfilm der jungen WortakrobatInnen-Szene gewidmet und dabei vier junge Talente in ihrem Kampf um den deutschen MeisterInnentitel begleitet. (2012)