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Beitrag vom 17.05.2019
Nathan Englander - Dinner am Mittelpunkt der Erde
Sigrid Brinkmann
In seinem ersten Agententhriller kombiniert der jüdisch-amerikanische Schriftsteller Nathan Englander eine Mossad-Entführung mit palästinensischen Vergeltungsakten und dem riskanten Rendezvous politischer Feinde im illegalen Tunnel zwischen Gaza und Israel.
Nathan Englander ist als Kurzgeschichtenerzähler und Romancier unschlagbar in der Kunst, die Selbstbilder seiner Charaktere zu zerlegen und ihren wahren Kern heraus zu schälen. Er tut dies kühl, sarkastisch oder mit mitfühlender Melancholie. Dialoge, die er schreibt, reißen immer Abgründe auf. In Englanders neuem Roman "Dinner am Mittelpunkt der Erde" geht es um Loyalität und Verrat, um Gewalt, Rache und eine unmögliche Liebesaffäre.
Die Sehnsucht nach dem Heiligen Land, sagt Nathan Englander, sei ihm in der jüdisch-orthodoxen Schule, die er in New York besuchte, früh "eingeimpft" worden. Zweimal habe er als junger Mann versucht, sich in Israel niederzulassen, doch dem aufreibenden Alltag fühlte er sich nicht dauerhaft gewachsen. Das politisch fruchtlose Taktieren im Nahen Osten lässt den 49 Jahre alten Autor aber nicht los. Er hat es zum Thema seines ersten, mit schwarzem Humor geschriebenen Agententhrillers gemacht. Der Roman ist eine großartige Parodie auf Geheimdienstaktivitäten. Zwischen Jerusalem und Paris, Berlin und Gaza lässt Englander Spione des Mossad und Unterstützer palästinensischer Terrorakte hin- und herjagen. Der wichtigste von sieben Protagonisten ist "Z", doch dieser ständig verliebte und nervenschwache Geheimdienstler ist die Karikatur eines Doppelagenten. Als "Z" begriff, dass ein von ihm eingefädelter Schmuggel Menschen in Gaza tötete, wechselte er die Seite. Mitleid mit dem Feind wird - wie es im Branchenjargon heißt - mit "Neutralisierung" quittiert.
Seine Erdrosselung, Vergiftung oder sein Ertränken in der Seine werden in den Annalen des israelischen Geheimdienstes nicht mehr sein als das Ausbessern eines Formulars mit ein wenig Tipp-Ex. Er untersagt sich, diesen Gedanken länger zu folgen. Offene Sorge, panische Grübeleien, all das wirkt auf die Gesichtsmuskulatur ein, lässt ihn schuldiger und verdächtiger erscheinen (...)
"Z" ist eine leichte Beute für den Mossad. Der gutherzige Verräter wird entführt und in einem Wüstengefängnis im Negev vergessen. Englander erzählt nicht chronologisch, doch so pointiert, dass die Leserin den Fortlauf seiner Geschichte zu keinem Moment aus den Augen verliert. Der einzige Mensch, den "Z" in dem geheimen Gefängnisbau zu Gesicht bekommt, ist sein Bewacher. Bevor die Mutter des Wärters ihren schlaffen Sohn überredete, den Job anzunehmen, verbrachte dieser seine Tage am liebsten auf der Couch und testete überflüssiges Wissen bei Fernsehratespielen.
"Du landest so oder so im Gefängnis", sagte seine Mutter und achtete nicht weiter auf seine Einwände. "Aber wenigstens landest du so auf der richtigen Seite der Tür und kannst am Wochenende nach Hause."
Und weiter: "Wir leben in Israel. Wir lassen selbst Mörder am Wochenende nach Hause. Du kannst ein Dutzend Leute umbringen, und sie lassen dich auf der Hochzeit deiner Kinder tanzen. Damit überzeugst du mich nicht."
"Es ist ein ganz besonderer Job", sagte sie. "Streng geheim. (...) Es ist der Premierminister, der dich will. Der General, es kommt von ihm."
Die Mutter des Wärters ist ein Faktotum im Haus des Mannes gewesen, der im Roman nur "der General" genannt wird. Den 2014 verstorbenen Ariel Scharon erkennt die Leserin leicht in dieser Figur. Der "General" bzw. Scharon, der nach einem Schlaganfall acht Jahre lang im Koma lag und in einer Art Zwischenreich dämmerte, ist neben "Z" das zweite Kraftzentrum des Romans. Jede Woche richtet der Gefangene ein Gnadengesuch an den General. Zur bitteren Ironie der Geschichte gehört, dass "Z" nicht einmal ansatzweise ahnt, dass der bewusstlose Befehlshaber ihm niemals antworten wird.
"(...) da liegt der große General, gewachst und poliert wie roter Delicious, wie ein aufgebahrter dicker Lenin (...) ... denkt eine der Pflegerinnen, als sie den ehemals hochrangigen Kriegshelden betrachtet. In kurzen, halluzinatorischen Einschüben erinnert Nathan Englander auch an Vergeltungsmaßnahmen, mit denen Ariel Scharon in die israelischen Geschichtsbücher einging. So soll er allein dreizehn Mal versucht haben, Palästinenserführer Jassir Arafat umzubringen. Englander erlaubt sich den Spaß, die mit ihrer List und körperlichen Widerstandsfähigkeit protzenden Feinde in seinem Roman an einen Küchentisch zu setzen.
Während Ruthi die Schakschuka verteilte, erinnerten sich die beiden an die Zeiten, da sie sich gegenseitig zu töten versucht und es nicht geschafft hatten, an all ihre Unfälle und die Situationen, in denen es sie beinahe erwischt hätte (...)
"Als mein Flugzeug in der Wüste abstürzte", sagte Arafat, "und ich kam davon."
"Als ich als junger Mann in Latrun in den Bauch getroffen wurde."
"Als Sie mich in Beirut im Fadenkreuz Ihrer Scharfschützengewehre hatten."
"Das wissen Sie?", sagte der General strahlend.
"Wir hätten abdrücken sollen."
"Es hätte Ihnen ein Abendessen erspart", sagte Arafat und nahm eine eingelegte Gurke.
Nathan Englanders große Stärke ist das satirische Erzählen. Wie ein Marionettenspieler bewegt er seine Figuren in einem großen Planspiel und bebildert in einer unerwarteten Schlussszene eine verrückt anmutende Utopie für einen israelisch-palästinensischen Frieden. In einem unterirdischen Tunnel, über dem Bomben einschlagen und Raketen abgeschossen werden, schenkt er zwei politischen Gegnern einen Moment der Intimität. Über das selbstmörderische Potential der Zusammenkunft braucht der Romancier schon kein Wort mehr zu verlieren. Er weiß einfach, wie man Nadeln setzt und den wundesten Punkt im Verhältnis von Israelis und Palästinensern bloß legt.
AVIVA-Tipp: Dieser Roman ist ein Bravourstück, denn Nathan Englander schreibt ironisch und leicht, aber nicht witzelnd über den Dauerkonflikt im Nahen Osten. Und zutiefst berührend sind die sparsam in das zwölf Jahre umspannende Tableau eingeflochtenen Reflexionen des Antihelden "Z". Er erinnert sich schließlich an seine erste Verstellung und versteht, warum es für einen wie ihn ein Leichtes wurde, falsche Identitäten wieder und wieder zu wechseln.
Zum Autor: Nathan Englander wurde 1970 in New York geboren und wuchs in einer jüdischen Gemeinde in Long Island auf. Er studierte in Jerusalem und in New York Englische Literatur und Jüdische Geschichte und lebte anschließend einige Zeit in Argentinien und in Israel. Neben dem Schreiben arbeitete er auch als Fotograf und Filmemacher. Nathan Englander ist Autor des Erzählbands "Zur Linderung unerträglichen Verlangens" und des Romans "Das Ministerium für besondere Fälle". Er lebt mit Frau und Tochter in Brooklyn, New York. Seine Erzählsammlung "Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden" wurde von SchriftstellerkollegInnen, KritikerInnen wie LeserInnen begeistert aufgenommen, 2012 mit dem Frank O´Connor Short Story Award ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Pulitzerpreises.
Mehr Infos unter: www.nathanenglander.com
Nathan Englander
Dinner am Mittelpunkt der Erde
Originaltitel: Dinner at the Center of the Earth
Originalverlag: Alfred A. Knopf
Aus dem Amerikanischen von Werner Löcher-Lawrence
Roman. 288 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-630-87407-4
22,00 €
Luchterhand Verlag, München, erschienen 22.04.2019
Mehr zum Buch unter: www.randomhouse.de
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Nathan Englander - Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden
In seiner Kindheit und Jugend gab es für den 1970 auf Long Island geborenen Nathan Englander nichts außer Thorastudium, Vorabendserien und Actionfilme mit Arnold Schwarzenegger und Sylvester Stallone. (2012)
Claire Hajaj - Ismaels Orangen
Wenn es um den israelisch-palästinensischen Konflikt geht, ist fast immer nur von Kampf und Verlusten die Rede. Die britische Autorin Claire Hajaj erzählt in ihrem Debütroman "Ismaels Orangen" von dem unverdrossenen Versuch, einander über kulturelle und religiöse Differenzen hinweg zu lieben und aneinander festzuhalten. (2016)
Lizzie Doron - Who the Fuck Is Kafka?
Die israelische Schriftstellerin, die sich in ihren Werken wie "Ruhige Zeiten" und "Das Schweigen meiner Mutter" literarisch vor allem mit der Auseinandersetzung um die Traumata der Shoah -Überlebenden und der 2. Generation im Israel der 1950er Jahre verdient gemacht hat, erzählt in ihrer aktuellen Veröffentlichung von der problematischen Freundschaft einer Israelin aus Tel Aviv (Lizzie Doron) mit einem in Ost-Jerusalem lebenden Palästinenser (fiktiv: Nadim Abu Heni) (2015)
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Der Beitrag wurde am 18.4.2019 bei SWR 2 in der Sendung "Lesenswert" gesendet. Autorin: Sigrid Brinkmann, Redaktion: Katharina Borchardt