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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 06.05.2019


Alexander Günsberg - Was die Väter erzählten. Wunder des Überlebens im Holocaust
Nea Weissberg

Günsberg ist ein Geschichtenerzähler und aufmerksamer Zuhörer. So handelt sein bei Hentrich & Hentrich erschienener Sammelband von Menschen, die den Mord am jüdischen Volk überlebt haben.




Schon während des Holocaust sammelten jüdische und nichtjüdische Zeitzeugen und Zeitzeuginnen sowie Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer Berichte von planmäßigen Massenmorden der NS-Täter und NS-Täterinnen an Jüdinnen und Juden und versuchten die Aufzeichnungen unter Lebensgefahr in Verstecken aufzubewahren.

Historischer Rückblick

Holocaustüberlebende und während der NS-Zeit aus Europa emigrierte Historiker und Historikerinnen schufen nach dem Sieg über Deutschland 1945 die Erstbestände der angelsächsischen Holocaustforschung. Wegweisende Voraussetzung für die umfassende Sammlung war die Sicherung von NS-Archiven durch die Alliierten und durch Institute zur jüdischen Geschichte. Der aus Berlin stammende und in die USA emigrierte Jacob Robinson baute das einstige deutsch-jüdische Institut (1925 gegründet) als ´Institute for Jewish History´ 1940 in New York neu auf. Robinson war 1945 Berater des US-Chefanklägers Robert H. Jackson. Der polnische Holocaust Überlebende Philip Friedman hatte bis zur deutschen Okkupation Polens 1939 eine Zweigstelle dieses Berliner jüdischen Instituts in Warschau geleitet. Friedmann emigrierte nach dem Zweiten Weltkrieg in die USA und gab die ersten historischen Publikationen zum Holocaust aus der Sicht Shoah-Überlebender heraus. Robinson und Friedman veröffentlichten gemeinsam 1960 das erste Journal zum Holocaust. Ihre über Jahrzehnte zusammengestellte Sammlung gilt als umfassendes Grundlagenwerk jüdischer Holocaustliteratur.

Heute sind Zeitzeugen und Zeitzeuginnen rar geworden. Es gibt nur noch vereinzelte Holocaust-Überlebende, die über das Erlebte berichten können oder wollen. Zudem haben die meisten, auch die, die von uns gegangen sind, den Angehörigen ihrer Familien gegenüber aus Scham oder zum Schutz der Kinder Stillschweigen über die Schrecken bewahrt, sodass viele Zeugnisse für immer verloren gegangen sind. Nur wenige Überlebende, die heute noch unter uns weilen, wollen berichten. In den meisten Familien wurde nach der Shoah geschwiegen, aus Scham oder um die Kinder zu schützen.

Was bleibt, wenn die Zeitzeugen und Zeitzeuginnen von uns gegangen sind?

Der Autor Alexander Günsberg wurde 1952 in Mailand als Sohn jüdischer Holocaust-Überlebender aus Österreich und Ungarn geboren.
Die direkten Nachkommen von Holocaust-Überlebenden und von Child Survivors werden seit 1965 von psychologischen Experten bzw. Expertinnen in den USA als Second Generation benannt. Die Child Survivors waren vom Tage ihrer Geburt an durch das NS-Vernichtungsprogramm existentiell bedroht. Anderthalb Millionen jüdische Kinder sind getötet worden. Durch diesen gewaltsam ausgelösten Riss in der natürlichen Generationenfolge entstand eine neue Generationenzählung.

Günsberg schaut aus einer anderen Perspektive darauf und sagt: "Viele jüdische Familien endeten im Holocaust, nicht aber das jüdische Volk! Man könnte sagen, es fehlt ein dicker Ast am Baum des Judentums. Ein Ast ist aber keine Generation. Generationen entsprechen den Jahresringen des Baumes und von denen fällt keiner heraus, wenn ein Ast abgesägt wird, wie dick er auch ist."

Erinnern und Bewahren

In fünf der in zehn Kapitel eingeteilten Kurzgeschichten "Was die Väter erzählten / Wunder des Überlebens im Holocaust" berichtet Günsberg über wahre Begebenheiten, die seine Familienmitglieder erfahren und durchlitten haben.

Hier erfüllt sein Buch einen wichtigen Beitrag, da es ihm gelingt, auf literarische Weise Lesern und Leserinnen Zeitgeschichte aus der Opfer-Perspektive und anhand von Einzelschicksalen nahezubringen.

In dem vierten Kapitel "Drei Arierinnen" beschreibt Günsberg die unfassbaren Erlebnisse der drei Schwestern Irene, Baba und Ella aus dem ungarischen Balassagyarmat, die das Vernichtungslager Auschwitz überlebt haben. Nach dem Einmarsch der Deutschen im März 1944 wurden Juden und Jüdinnen aus Balassagyarmat in Vernichtungslager deportiert, die vor allem im von NS-Deutschen besetzten Polen eingerichtet wurden.

"Im Lager, kurz hinter dem Torbogen, saß ein elegant gekleideter Mann vor einem kleinen Tisch, der in der Mitte der Straße aufgestellt war. Er sprach nicht, bewegte nur seinen Daumen nach rechts oder links, als die Menschen an ihm vorbeischritten. Es war der Teufel in Menschengestalt Dr. Josef Mengele, der Lagerarzt, der entschied, wer sofort sterben sollte und wer noch kurze Zeit vor der Ermordung zu Schwerstarbeit eingeteilt wurde."

Vor Mengele, der eigenmächtig über Leben und Nicht-Leben entschied, standen auch die drei Schwestern. Sie waren "großgewachsen, schlank, blond und blauäugig, dazu noch ausnehmend hübsch und hatten einen sehr hellen Teint... Dr. Mengele... stand auf und kam auf sie zu. Er fasste Irene, der Jüngsten – sie war damals siebzehn – ans Kinn und prüfte mit seinen Blicken genauestens ihr Gesicht. Dann holte er ein kleines Metalllineal aus der Innentasche seiner Jacke heraus und maß ihren Kopf aus. Irene zitterte noch mehr. Nun wandte er sich Baba und Ella zu und tat dasselbe mit ihnen."

Mengeles fanatischer Irrglaube an die "NS-Rassentheorie" rettet den drei Schwestern das Leben. Aufgrund seiner Messungen und ihrer vermeintlich "arischen" Körpermerkmale beurteilt er die drei Frauen als lebenswert und teilte sie der Schreibstube zu, nicht jedoch ohne sie vorher auf schmerzvollste Art zu sterilisieren.

Es grenzte an ein Wunder, dass alle drei Schwestern nach ihrer Befreiung heiraten und Kinder bekommen konnten. Alexander Günsberg, dem Sohn ihrer Cousine Ilona gegenüber, legten sie Zeugnis ab über die in Auschwitz systematisch durchgeführten Versuche an lebenden Menschen.

Anders als die Ermordeten konnten die drei Schwestern über die Untaten berichten, die an ihnen begangen wurden und die sie an ihren Leidensgenossen und Leidensgenossinnen mitansehen mussten. Günsberg hat das Erlebte aufgeschrieben und zur Erinnerung und Mahnung für die nachfolgenden Generationen bewahrt.

Die systematisch durchgeführten Gräueltaten, die die NS- Deutschen, Okkupanten und Bewacher, in Auschwitz verschuldeten, konnten sie im nicht reglementierten Laborexperimentfeld erbarmungslos, unkultiviert und ungebremst austoben. Dort verstießen sie gegen keine Vorschrift, denn ihr Tun war staatlicherseits im deutschen ´Dritten Reich´ legitimiert.

Das erste Kapitel, "Hauptmann Bernstein", ist eine längere biographische Erzählung über den Berliner Arzt und Medizinprofessor Richard Bernstein, eine packende Geschichte voll exzessiver Lebensbedrohung durch den Naziterror, Irrwege des Entkommens, Trauer über die ermordeten Liebsten, großem Überlebenswillen – spannend und herzergreifend geschrieben.

Nach der Ermordung seiner Familie hält Bernstein nur noch das Ziel am Leben, aus Nazideutschland zu entkommen, sich der Roten Armee anzuschließen und Adolf Hitler persönlich zur Rechenschaft ziehen zu wollen.
"Wenn Sie wirklich Jude sind, wieso sind Sie dann noch am Leben und kommen ausgerechnet unter die SS-Leute?", wird er von Aufständischen im Warschauer Ghetto gefragt. Es ist der 19. April 1943, der erste Pessachabend. Als Antwort trägt Bernstein das "Ma nischtana haleila hase mikol halelot" vor, die vier Fragen, die das jüngste Kind dem Vater am Sedertisch stellt, und wird in den Kreis der Seinen aufgenommen.

Günsberg weist den Leserinnen und Lesern einen Weg auf, der zugleich mahnt und tröstet

"Aus einem Lautsprecher ertönte laut die Hatikwa, das jüdische Lied der Hoffnung. Aus allen Häusern im Ghetto wurde mitgesungen: Solange noch im Herzen eine jüdische Seele wohnt und nach Osten hin, vorwärts, ein Auge nach Zion blickt, solange ist unsere Hoffnung nicht verloren, die Hoffnung, zweitausend Jahre alt, zu sein ein freies Volk, in unserem Land, im Land Zion und in Jerusalem!".

AVIVA-Tipp: Eine Schatztruhe an geschichtlicher Wissensvermittlung ist das Buch von Alexander Günsberg, der mit feinsinniger Sprache historische Zeitgeschichte für Nachgeborene vermittelbar und einfühlbar macht.

Zum Autor: Alexander Günsberg, 1952 in Mailand geboren, verbrachte seine Kindheit und Jugend in Mailand, Wien und Zürich. Studium der Germanistik, Geschichte und Psychologie. 1974 erhielt er den Literaturpreis des Kantons Baselland für die Kurzgeschichte ´Alijah´, publiziert im Band ´Ausgezeichnete Geschichten´. Nach einem langen Berufsleben in Österreich, der Schweiz und den USA widmete er sich erneut den Musen, gründete Schachclubs und hat 2015 wieder zu schreiben begonnen. Seit 2015 lebt er mit seiner Familie, seiner fünften Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn am Zürichsee und in den Walliser Bergen. Er bezeichnet sich als Weltbürger, Heimwehwiener mit Schweizer Pass, italienischem Herzen und als zionistischen Juden, der eine tiefe religiöse Vergangenheit hat. (Quelle: Autor)
Mehr Infos auf der Website von Alexander Günsberg: www.alexander-guensberg.com

Alexander Günsberg
Was die Väter erzählten
Wunder des Ãœberlebens im Holocaust

Hentrich & Hentrich, Berlin und Leipzig, 2018
368 Seiten, Hardcover
ISBN: 978-3-95565-295-1
24,90 Euro
Mehr zum Buch und bestellen unter:
www.hentrichhentrich.de

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