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Beitrag vom 30.03.2019
Chinelo Okparanta - Unter den Udala Bäumen. Herausgegeben von Indra Wussow
Ahima Beerlage
Ijeoma, ein Igbo-Mädchen aus dem mehrheitlich von ChristInnen bewohnten Biafra, verliebt sich in den 1970er Jahren in ein Haussa-Mädchen aus dem muslimischen Teil Nigerias. Eine Liebe, die auf so vielen Ebenen in ihrem Land nicht sein darf. Die in Port Harcourt/Nigeria geborene Schriftstellerin Chinelo Okparanta begleitet bildreich und liebevoll Ijeoma dabei, wie sie versucht, ihre Liebe zu Frauen zu leben.
Chinelo Okparanta macht es sich und ihren Leserinnen nicht leicht. Ihre Ich-Erzählerin verliert gleich zu Beginn des Buches im zweiten Jahr des Biafra-Krieges 1968 bei einem Luftangriff ihren Vater, der an der aussichtslosen Lage der Befreiungs-Armee Biafras im Kampf gegen die Übermacht der nigerianischen Armee den Lebensmut verliert und bei einem Luftangriff getötet wird.
"Sein Gesichtsausdruck war distanziert, als hätte er sich von allem, was er kannte, entfernt, wäre gleichzeitig aber tiefer verbunden als je zuvor."
Wird der Krieg vordergründig unter verschiedenen Volksgruppen und zwischen ChristInnen und MuslimInnen geführt, geht es im Hintergrund doch nur um Geld und Ölfördergebiete. Beide Kriegsparteien werden von unterschiedlichen westlichen und östlichen Ländern mit Waffen versorgt, um sich Anteile an den Ressourcen zu verschaffen. Leiden muss vor allem die Zivilbevölkerung, die durch Blockaden zum Hungern verurteilt wird. Ihre Mutter, tief trauernd und auf sich gestellt, klammert sich an ihren strengen christlichen Glauben und hält mit ihrer Tochter Ijeoma Bibelstunden ab, während sie ums nackte Überleben kämpfen. Strenge Moralvorstellungen halten ihre Gemeinde und ihre Nachbarschaft in den Kriegswirren zusammen. Ijeoma muss erleben, wie in ihrer Nachbarschaft ein schwules Paar der "Gräuel-Sünde" bezichtigt, gedemütigt und totgeprügelt wird. Immer wieder kommen der jungen Christin dabei Zweifel an der Auslegung der Bibel, wenn sie zu so gnadenlosen Akten führt.
Aber Mutter und Tochter haben auch andere Sorgen. Die Mutter muss sich eine eigene Existenz aufbauen. Sie kann nicht mehr für ihre Tochter sorgen und gibt sie in die Hände eines LehrerInnenehepaares, die das Mädchen als Haushaltshilfe aufnimmt und lieblos für sich arbeiten lässt. Dort lernt sie Amina aus dem Norden des Landes kennen. Amina ist Haussa und Muslima. Während der Jahre des BürgerInnenkriegs kannte Ijeoma Haussa nur als FeindInnen und so begegnet sie Amina zunächst reserviert. Das LehrerInnen-Ehepaar, mehr an billigen Arbeitskräften als an Feindbildern interessiert, nimmt das verwaiste Mädchen auf, verheimlicht aber in der Öffentlichkeit ihre Herkunft. Eine Liebe entsteht zwischen den Mädchen, die beiden in dem kalten Haus Halt gibt. Den Mädchen ist nicht bewusst, dass sie etwas Falsches tun – bis sie vom Hausherrn gesehen werden.
"Die ganze Situation war auch für mich ein Schock, und für Amina muss sie ebenfalls ein Schock gewesen sein, nicht nur, weil es ein sehr unangenehmes Gefühl war, wie der Lehrer dastand und uns anglotzte, sondern auch, weil wir mit einem Mal gezwungen waren, uns durch seine Augen zu sehen." Ihre Mutter wird benachrichtigt und holt die Tochter ab, um sie wieder auf den "richtigen Weg" zu bringen. Für Ijeoma beginnt eine lange Reise, in dem sie immer wieder ihre Gefühle für Frauen verbergen muss, um sich vor Verfolgung zu schützen.
Dem Lebensweg Ijeomas zu folgen, tut weh. Tief verwurzelt in ihrer evangelikalen Auslegung der Bibel, wird ihre lesbische Liebe nicht nur von außen, sprich durch Pflegeeltern und ihre Mutter, bekämpft, sondern auch in ihr tobt ein Kampf. Die christliche Religion hat sie durch den Krieg getragen, scheint aber jetzt ihre Liebe zu Frauen zu verurteilen. Homosexuelle Männer und Frauen werden von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt, Homosexualität steht unter Strafe. Ijeoma, die eine Frau liebt, heiratet schließlich einen alten Freund aus Kindertagen, um der Diskriminierung zu entgehen. Es dauert lange, bis sie für sich einen Ausweg findet.
Die Geschichte Ijeomas weckt auf den ersten Blick Bitterkeit und Wut. Es ist Chinelo Okparantas großer Erzählkunst zu verdanken, dass dies nicht geschieht. In Bildern und Geschichten findet die Leserin nicht nur einen tiefen Einblick in die Sprache und in die Weltsicht der Ibgo und in die jüngere Geschichte des Vielvölkerstaates, sondern auch in die gesellschaftlichen Kämpfe, die das postkoloniale Nigeria in den einzelnen Bevölkerungsgruppen austragen muss. Christlicher Fundamentalismus ist dabei kein spezifisches Problem Nigerias oder des afrikanischen Kontinentes, auch wenn im Fahrwasser der Kolonialmächte eine besonders konservative (Zwangs)christianisierung stattgefunden hat. Rigide Religionsauslegungen, die in Homophobie und Bigotterie münden, gewinnen zunehmend Raum auf der ganzen Welt.
In der Geschichte von Chinelo Okparanta vermischen sich Legenden, Mythen und Geschichten aus der Geschichte der Bevölkerungsgruppen der Region mit autoritärer Bibelauslegung. Die Hoffnung der Hauptfigur Ijeoma ruht dabei auf einem Gottesbild, das Veränderung in sich birgt. Sie versucht es, am Alten und Neuen Testament der Bibel zu belegen. Es gilt nicht mehr der Bund des Gesetzes, sondern der Bund der Barmherzigkeit Die Autorin lässt ihre Ich-Erzählerin Hoffnung aus ihrem Glauben ziehen. Dabei wählt sie als Bild den Bund Gottes mit den Menschen, der im Alten Testament mit dem Volk Israel verbunden ist und im Neuen Testament erweitert wird auf die ganze Menschheit. Schwierig wird es, wenn dabei das Alte Testament als ausschließlich dem Gesetz verpflichtet und das Neue Testament ausschließlich der Barmherzigkeit gewidmet dargestellt wird und das Ganze wie eine Art Evolution Gottes dargestellt wird. Die Hoffnung der christlichen Protagonistin, dass sich ähnlich wie in ihrem Glauben auch das Gesellschaftsbild zum Menschlichen verändert, ist verständlich. Aber die Theorie, nach der das Christentum die Fortentwicklung und legitime Nachfolge des Judentums ist, wie sie von vielen evangelikalen ChristInnen vertreten wird, ist eine theologische Grundlage judenfeindlicher Tendenzen. Bleibt zu hoffen, dass bei den Lesenden eher der Wunsch der Protagonistin nach einer ständigen Erneuerung des Bündnisses zwischen Gott und den Menschen und ihr Wunsch nach Veränderung hin zu mehr Barmherzigkeit und Offenheit in jedem Glauben und auch jenseits jeden Glaubens in den Fokus rückt.
AVIVA-Tipp: Chinelo Okparantas Roman gibt seltene Einblicke in ein Land und in eine Bevölkerungsgruppe auf dem Afrikanischen Kontinent. Sie erzählt gleichzeitig auch über den Wunsch einer lesbischen Frau, ihre Liebe in einer christlich-fundamentalistischen Gesellschaft leben zu können. Es ist eine bildreiche, warme und stärkende Geschichte über Liebe und Mut, die Frömmelei und Unterdrückung überwindet. Es ist eine afrikanische und eine universale Geschichte, deren poetische Bilder weit über den bloßen Plot hinausreichen. Den Übersetzerinnen Sonja Finck und Maria Hummitzsch ist es dabei gelungen, dieses im Original schon mehrsprachige Buch behutsam aus dem nigerianischen Englisch ins Deutsche zu übertragen. Dieses Buch weckt den Wunsch, noch viel mehr Literatur AUS afrikanischen Ländern und Kulturen als ÜBER den Afrikanischen Kontinent zu lesen.
Zur Autorin: Chinelo Okparanta wurde in Port Harcourt/ Nigeria geboren. Mit zehn Jahren emigrierte sie mit ihrer Familie in die USA, wo sie auch studierte. Ihr erster Roman Under the Udala Trees erschien 2015 und war 2017 auf der Shortlist des International Dublin Literary Award. Sie unterrichtet derzeit Kreatives Schreiben an der Bucknell University, Lewisburg/ USA.
Zur Herausgeberin: Indra Wussow studierte Literaturwissenschaft, lebt in Johannesburg/Südafrika und auf Sylt. Sie arbeitet als Autorin, literarische Übersetzerin und Kuratorin für verschiedene internationale Einrichtungen. 2002 gründete sie auf Sylt die von ihr geleitete Stiftung kunst:raum sylt quelle. Mit Stipendien, Ausstellungen, Aufführungen und Veröffentlichungen werden zeitgenössische Künstler und Künstlerinnen sowie Schriftsteller und Schriftstellerinnen aus unterschiedlichen Nationen gefördert. Ein weiterer Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt im Dialog zwischen Wissenschaft und Kunst. 2008 eröffnete die Stiftung eine Dependance in Johannesburg, das Jozi art:lab.
Die Ãœbersetzerinnen
Sonja Finck, geboren 1978, lebt in Berlin und Kanada und hat u.a. Annie Ernaux, Wajdi Mouawad, Kamel Daoud, Léonora Miano und Ryad-Assani Razaki ins Deutsche übertragen. Für ihre Arbeit wurde sie mit dem André-Gide-Preis und dem Deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnet.
Maria Hummitzsch, geboren 1982, studierte in Leipzig, Lissabon und Florianópolis Übersetzung, Psychologie und Afrikanistik. Sie übersetzt aus dem Englischen und Portugiesischen, u. a. Shani Boianjiu, David Garnett, David Foster Wallace, Imbolo Mbue und E.C. Osondu.
Chinelo Okparanta
Unter den Udala Bäumen
Originaltitel: Under the Udala Trees
Herausgegeben von Indra Wussow
Aus dem nigerianischen Englisch übersetzt von Sonja Finck und Maria Hummitzsch
Gebundene Ausgabe, 336 Seiten
Verlag: Das Wunderhorn, erschienen 1.10.2018
ISBN: 978-3884235911
Preis: Euro 25,80
Mehr zum Buch unter: www.wunderhorn.de
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Infos zu Herausgeberin, Autorin und Ãœbersetzerinnen: Verlagsinformationen