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Beitrag vom 20.02.2019
Ingeborg Bachmann - Hans Magnus Enzensberger. Schreib alles was wahr ist auf. Briefe
Silvy Pommerenke
Der bislang unveröffentlichte Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger wurde in der Salzburger Bachmann Edition veröffentlicht, die bislang vier Bände beinhaltet und auf dreißig Bände ausgeweitet werden soll.
Über einen Zeitraum von 15 Jahren (1957 - 1972) haben Bachmann und Enzensberger einen Briefwechsel geführt. Dass - zumindest die vorliegenden - die Briefe Bachmanns noch erhalten sind, ist ein wahres Glück, denn nach ihrem Wunsch hätte Enzensberger diese eigentlich vernichten sollen. Was er aber nicht tat, oder aber wenn doch, dann nicht umfassend. Der Briefwechsel ist (anfangs) etwas unausgeglichen, da Enzensberger wesentlich häufiger und längere Briefe schreibt. Das ändert sich im Laufe der Jahre, und auch Bachmanns Briefe werden häufiger, länger und umfangreicher.
Der Entwicklung dieser Freundschaft (oder sollte es doch mehr gewesen sein?) durch diese Zeitzeugnisse beizuwohnen, ist aufregend. Wenn im Sommer 1959 zum Beispiel plötzlich aus dem Sie ein Du wird. Geschuldet ist diese sprachliche Intimität vermutlich einer gemeinsamen Rom-Reise im Juni 1959 und dem anschließenden Besuch in Enzensbergers italienischem Refugium in Lanuvio, einem Vorort von Rom. Max Frisch, mit dem Bachmann zu diesem Zeitpunkt liiert war, wollte eine Krankheit auskurieren, und hatte sie auf Reisen geschickt. Der Ton wird von nun an deutlich vertrauter zwischen den beiden fast Gleichaltrigen. Anfangs unterschwellig sehnsüchtig, später auch ganz offensichtlich. Da wird von dem Führen eines "Doppellebens" (Enzensberger) geschrieben, "Augenküsse" (Bachmann) werden hingehaucht oder es wird konstatiert: "das haus hat sich aus der lähmung befreit, die du hinterlassen hast durch deine barsche abreise" (Enzensberger). Und Bachmann tröstet Enzensberger nach seiner Ehescheidung mit den Worten: "Nimm mich in Anspruch, denn ich werd dich vielleicht auch einmal in Anspruch nehmen wollen".
Irgendwann Ende 1959, Anfang 1960 normalisiert sich der Ton, die unterschwelligen Emotionen weichen einer intensiven Freundschaft, die sich vorzugsweise über Literatur austauscht oder aber es geht um die Sorgen und Nöte von Bachmann. Immerhin fasst Bachmann so viel Vertrauen zu ihrem Schriftstellerkollegen und Freund, dass sie ihm von ihrem problematischen Tablettenkonsum erzählt – von dem angeblich kaum jemand wusste. In einigen Briefen finden sich zumindest Andeutungen von ihr, er hingegen thematisiert das deutlich und gibt seinen Sorgen um sie schriftlichen Ausdruck. Im Jahr 1962 findet die Trennung von Max Frisch Einlass in die Briefe, und auch hier findet Enzensberger tröstliche Worte aus dem fernen Norwegen, wo er sich mit seiner Frau Dagrun und seiner Tochter Tanaquil niedergelassen hatte.
Neben der persönlichen Zuneigung verband die beiden AutorInnen vor allem aber die Liebe zur Literatur und zur Sprache. Nicht nur zur deutschen, sondern auch zur italienischen. So finden sich denn auch einige Passagen auf Italienisch wieder, in denen sich Enzensberger poetisch auslässt oder in denen Bachmann Schlussworte findet. Vor allem für die Literaturwissenschaft sind die Auskünfte, die die beiden über ihre aktuellen Projekte in den Briefen wiedergeben von großer Bedeutung, oder wenn sie sich gegenseitig Rat geben und einander motivieren, wenn der kreative Prozess in´s Stocken gerät.
Leider sind die zeitlichen Abstände zwischen den einzelnen Schriftstücken bisweilen recht groß, und in den ersten Jahren wird selten in einem Brief Bezug auf einen anderen genommen, sodass es stellenweise beschwerlich für die Leserin ist, einen Zusammenhang herzustellen. Glücklicherweise ändert sich das über die Dauer des Briefwechsels, zudem sorgt der Herausgeber Hubert Lengauer durch seinen umfassenden Stellenkommentar dafür, dass die meisten Leerstellen geschlossen und offene Fragen beantwortet werden.
Der eigentliche Briefwechsel zwischen Bachmann und Enzensberger füllt nur etwa die Hälfte des Buches, die andere wird dem Anhang gewidmet, wo sich neben dem bereits erwähnten Stellenkommentar unter anderem einige Portraits der beiden AutorInnen und Faksimiles der Briefe wiederfinden. Auch das äußerst umfangreiche Nachwort ist des Lesens Wert, denn auf fast siebzig Seiten setzt sich Hubert Lengauer dezidiert mit der Beziehung von Bachmann und Enzensberger auseinander. Für das Textverständnis des Briefwechsels ist es also durchaus sinnvoll, das Nachwort zuerst zu lesen.
Im Sommer 1968 bricht der Briefwechsel plötzlich ab. Vielleicht, weil andere Briefe nicht mehr erhalten sind, oder weil sie aus anderen Gründen nicht veröffentlicht wurden. Vielleicht gab es aber auch nichts mehr zu sagen zwischen der Lyrikerin und dem "zornigen jungen Mann". Hubert Lengauer vertritt die These, dass die beiden Autor*innen aus politischen Gründen "auseinandergedriftet waren". Der Briefwechsel schließt mit zwei Briefen Bachmanns vom Oktober 1972, die sie nie abgeschickt hat, und in denen sie sich zu dem jüngsten Roman Enzensbergers "Der kurze Sommer der Anarchie" äußert. Da die Briefe nicht nur nicht abgeschickt wurden, sondern auch nur als Entwürfe vorhanden sind, hinterlässt das jähe Ende eine gewisse Leere bei der Leser*in. Der Wunsch, eine Fortsetzung des schriftlichen Austauschs zu lesen ist ebenso groß, wie er unmöglich ist: Ingeborg Bachmann starb ein Jahr darauf in Rom an den Folgen eines Brandunfalls.
AVIVA-Tipp: Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Hans Magnus Enzensberger ist nicht nur aus literaturwissenschaftlicher Hinsicht interessant - gerade auch, was die Gruppe 47 betrifft - und dient in vielen Punkten dem besseren und vielleicht auch neuen Verständnis der Schriften der beiden, sondern er zeichnet auch ein Abbild des europäischen Literaturbetriebs der Nachkriegsgeschichte und gibt eine intime Innensicht der beiden Autor*innen wieder. Dank des umfangreichen Stellenkommentars und des informativen Nachwortes ist der vierte Band der Salzburger Bachmann Edition erneut ein großes Geschenk für Bachmann-Rezipient*innen geworden.
Zur Autorin: Ingeborg Bachmann wurde am 25. Juni 1926 in Klagenfurt geboren. Sie begann schon als Schülerin zu schreiben. Sie studierte Philosophie in Innsbruck, Graz und schließlich in Wien, wo sie Bekanntschaft u. a. mit Hans Weigel machte. 1949 verfasste Bachmann ihre Dissertation über Martin Heideggers Existentialphilosophie. Anschließend trat sie eine Stelle beim amerikanischen Sender Rot-Weiß-Rot an, die zum Ausgangspunkt ihrer Rundfunkarbeit wurde. Die Freundschaft mit dem Dichter Paul Celan hatte einen großen Einfluss auf ihr Denken. Ingeborg Bachmann gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Prosaschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Sie starb am 17. Oktober 1973 in Rom. (Quelle: Verlagsinformationen)
Zum Autor: Hans Magnus Enzensberger wurde 1929 in Kaufbeuren geboren. Als Lyriker, Essayist, Biograph, Herausgeber und Ãœbersetzer ist er einer der einflussreichsten und weltweit bekanntesten deutschen Intellektuellen. (Quelle: Verlagsinformationen)
Zum Herausgeber: Hubert Lengauer, geboren 1948, Promotion 1972 und Habilitation 1986 im österreichischen Klagenfurt. Von 1987 war er bis zu seiner Emeritierung Universitätsprofessor mit den Schwerpunkten Literaturtheorie, Aufklärung und österreichische Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Ingeborg Bachmann – Hans Magnus Enzensberger
Schreib alles was wahr ist auf. Briefe
Herausgegeben von Hubert Lengauer. Werkausgabe
Suhrkamp Verlag, erschienen Oktober 2018
Gebundenes Buch, 479 Seiten
ISBN 978-3-518-42613-5
Euro 44,00
Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de
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