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Beitrag vom 10.12.2018
Géraldine Schwarz - Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin
Bärbel Gerdes
Die deutsch-französische Journalistin und Dokumentarfilmerin Géraldine Schwarz breitet ein weites Tableau deutscher und französischer Geschichte von der Nazi-Diktatur bis zur heutigen Rechten aus. In ihrem klugen und spannenden Buch warnt sie vor Geschichtsvergessenheit und dem Schweigen der Massen.
Ihre letzte Reise führt sie Ende März 2018 in ein kleines österreichisches Dorf. In einem Wasserschloss trifft sich dort die internationale Rechte zu einem Kongress der Verteidiger Europas. Géraldine Schwarz hat sich eine Eintrittskarte gekauft, um aus erster Hand zu erfahren, was dort geschieht. In seiner Eröffnungsrede drückt der FPÖ-Chef und Vize-Bürgermeister von Graz seine Besorgnis darüber aus, dass die Vermehrungsrate der Österreicher geringer ausfalle als die der Ausländer. Andreas Lichert, AfD-Kandidat für die Landtagswahlen 2018 in Hessen, entschuldigt sich nach Rufen aus dem Publikum dafür, dass er in seiner Rede den Ausdruck Ostdeutschland statt Mitteldeutschland benutzt hat. Während seiner gesamten Präsentation wird er nun Mitteldeutschland sagen, als lägen jenseits der Oder-Neiße-Grenze noch immer deutsche Territorien.Auch internationale Gäste gibt es, aus Ungarn, Italien und sogar aus den USA.
Aufgemacht hatte sich Schwarz, um die Vergangenheit ihrer Familie zu durchleuchten und um herauszufinden, was das eigentlich war, ein Mitläufer, wozu viele Deutsche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und im Zuge der Entnazifizierung gemacht worden waren. Der Blick der Autorin ist ein ganz besonderer. Als Tochter einer französischen Mutter und eines deutschen Vaters untersucht sie die Vergangenheit ihres Großvaters, der im Vichy-Regime Gendarm war, und die Rolle ihres Großvaters in Mannheim, der 1938 von den zwei jüdischen Brüdern Julius und Ferdinand Löbmann die "Fabrik techn Oele und Fette", F. & J Löbmann, erwarb. Nur einer der Brüder überlebte, er konnte zwei Jahre nach seiner Flucht aus dem Lager Gurs in die USA emigrieren. Nach dem Kriegsende meldete er sich, um das Recht auf eine Ausgleichszahlung geltend zu machen. Karl Schwarz war sich keiner Schuld bewusst, schließlich gab es einen Vertrag, einen Stempel, alles legal.
Es folgte ein langer Briefwechsel und ein Rechtsstreit, in dem immer stärker das Jammern und Klagen der Deutschen zu hören war. Er habe damals doch schon mehr gezahlt, als er gemusst hätte, schreibt der Großvater. Julius Löbmann solle sich doch mal das zerbombte Deutschland ansehen. Er hätte doch selbst nichts. Löbmann könne ihn doch nicht ruinieren.
So wie Karl Schwarz bereicherten sich viele Deutsche während der Nazizeit, indem sie jüdisches Eigentum zu lächerlich niedrigen Preisen erwarben und sich nicht fragten, was denn mit den Jüdinnen und Juden geschah, denen sie ihren Besitz nahmen.
Géraldine Schwarz schildert die schrittweise Verdrängung und Ausgrenzung deutscher jüdischer BürgerInnen aus dem Sozial- und Wirtschaftsleben und die Reaktionen und Nicht-Reaktionen der meisten Deutschen. Eigentlich sei sie gar nicht dazu berufen sich für Nazis zu interessieren, beginnt sie ihren spannenden Text. Schließlich standen die Eltern ihres Vaters weder auf Seiten der Opfer noch auf der der Täter. Sie zeichneten sich weder durch mutige Bravourakte aus, noch hatten sie sich im blinden Eifer versündigt. Sie waren schlicht Mitläufer, ein Teil der großen schweigenden Menge, die hinsah oder wegsah, eine Akkumulation kleinerer Blindheiten sowie feigherzigen und konformistischen Verhaltens, die in ihrer Summe die notwendige Voraussetzung für die schlimmsten staatlich organisierten Verbrechen schuf, die die Menschheit je erlebt hat.
Schwarz weist nach, wie der Bevölkerung anfangs der Puls geprüft wurde, wie weit die Nazis gehen konnten. Die Akzeptanz in der Bevölkerung wurde sorgfältig ausgelotet. So wurde bei den ersten Deportationen offen sichtbare Gewalt vermieden und statt der später verwendeten Güterwagons wurden reguläre Reisezüge eingesetzt.
Schwarz macht klar, wie viele Menschen an den Verbrechen der Nazis beteiligt waren. Es waren nicht nur die, die in den Konzentrationslagern arbeiteten. Mit Beginn des Zweiten Weltkrieges profitierten deutsche Unternehmen von ZwangsarbeiterInnen. Privatleute hatten Fremdarbeiter zu Hause. NachbarInnen und MitschülerInnnen "verschwanden", es durfte nicht mehr in jüdischen Geschäften gekauft werden. Schuldig sind die, die sich an den Möbeln und Besitztümern der Deportierten bereicherten und heimlich oder offen hofften, sie mögen nicht zurückkommen.
Schuldig machten sich auch die Staaten, die sich entweder vollkommen weigerten, geflüchtete Jüdinnen und Juden aufzunehmen oder ihre Zahl limitierten. Wie Ursula Krechel in ihrem Roman Geisterbahn schildert die Autorin das unterschiedliche Vorgehen der Alliierten bei der Entnazifizierung, die mal strenger und mal weniger streng ausfiel, auch dies abhängig von den Interessen des jeweiligen Staates.
Auf der anderen Seite waren die Franzosen, deren Land in einer von den Nazis besetzten und einer freien Zone unterteilt war. Das französische Lager Gurs lag im Südwesten Frankreichs, wo das Vichy-Regime zum Handlanger der Nazis wurde. Hier wurden mehr als 76.000 Jüdinnen und Juden von französischen Polizisten interniert und in die Konzentrationslager der Deutschen deportiert. Auch Géraldine Schwarz´ Großvater ist hier Gendarm. Wie und inwieweit sich ihr Großvater beteiligt hat, kann seine Enkelin bis heute noch nicht restlos aufklären.
Ein besonderes Augenmerk legt Schwarz auf die Aufarbeitung dieser Verbrechen und Gräueltaten. Während diese in Deutschland nur sehr schwer in Gang kam, eine Stunde Null ausgerufen, nicht zurückgeblickt wurde und eine Aufarbeitung erst allmählich im Zuge der StudentInnenproteste der 60ger Jahre zaghaft begann, wird die Beteiligung Frankreichs auch heute noch geleugnet oder bagatellisiert. Dass ein Präsident Macron den Nazi-Kollaborateur Philippe Pétain, der für die Deportation jüdischer BürgerInnen verantwortlich war, noch im Jahre 2018 für seine Verdienste im 1. Weltkrieg als großen Soldaten ehrt, obwohl er unheilvolle Entscheidungen getroffen habe, sagt viel aus über die Verdrängung der Franzosen und Französinnen bezüglich ihrer Beteiligung an Völkermord und -verfolgung.
Die erst 44jährige Géraldine Schwarz untertitelt die deutsche Ausgabe mit Erinnerungen einer Europäerin, was ziemlich verblüfft. Und doch schafft sie es, über alle Grenzen und Zeiten hinweg eine europäische Erinnerung zu schaffen, die wichtig ist, um dem sich ausbreitenden Rechtspopulismus etwas entgegen zu setzen. Schwarz ist davon überzeugt, dass die RechtspopulistInnen dort ihre größten Erfolge feiern, wo die Geschichtsaufarbeitung kaum stattgefunden hat. Jedes Individuum ist für seine Handlungen verantwortlich und jedes Individuum muss die Geschichte kennen, aus der Terror, Mord und Vernichtung erwächst.
Wenn diese Geschichte zum Vogelschiss verkommt, sind die Gedächtnislosen am Werk.
AVIVA-Tipp Géraldine Schwarz hat ein leidenschaftliches Plädoyer gegen das Vergessen und gegen das Schweigen geschrieben. Ihr erschütterndes und aufrüttelndes Buch ist eine Zeitreise durch eine furchtbare Geschichte, die vor den gegenwärtigen Rechten Entwicklungen in vielen europäischen Ländern mahnt.
Zur Autorin: Géraldine Schwarz wurde 1974 in Straßburg geboren. Die deutsch-französische Journalistin, Filmemacherin und Autorin war langjährige Deutschlandkorrespondentin der Agence France Press (AFP), 2017 erschien ihr Roman Les Amnésiques (dt. Die Gedächtnislosen – Erinnerungen einer Europäerin) in Frankreich. Er wurde in der Kategorie "Roman" mit dem Preis des Europäischen Buches 2018 ausgezeichnet. Géraldine Schwarz lebt in Berlin.
Géraldine Schwarz
Die Gedächtnislosen. Erinnerungen einer Europäerin
Originaltitel: Les Amnésiques
Aus dem Französischen von Christian Ruzicska
Secession Verlag, erschienen am 27.8.2018
445 Seiten, gebunden ohne Schutzumschlag
ISBN 978-3-906910-30-7
28,00 Euro
Mehr zum Buch: www.secession-verlag.com
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