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Beitrag vom 25.10.2018
Deborah Levy - Heiße Milch
Lisa Goldberg
Erfolgsautorin Deborah Levy ("Heim schwimmen", "Was ich nicht wissen will") lieferte Anfang 2018 einen packenden Roman über die komplexe Beziehung einer jungen Frau zu ihrer an tauben Beinen leidenden Mutter vor der Kulisse Andalusiens. Es ist eine Geschichte, die die Hitze dieses Sommers für die Stunden der Lektüre zurückholt und die Grenzen zwischen Fiktion und Realität unter der südspanischen Sonne verglühen lässt.
Wie geht frau um mit einer Mutter, die vorgibt nicht laufen zu können und einem doch immer wieder davonläuft?
"Meine Liebe zu meiner Mutter ist wie eine Axt. Sie schlägt sehr tief."
Psychologisch, analytisch und bildgewaltig handelt "Heiße Milch" von der undurchsichtigen Bindung einer jungen Frau zu ihrer Mutter, sowie deren nicht weniger rätselhaften Krankheit. In der Hoffnung eine Diagnose oder gar Heilung der Taubheitserscheinungen in den Beinen der Mutter zu erhalten, machen sich die beiden britischen Frauen gemeinsam auf den Weg an die andalusische Küste, nach Almeria.
Bald stellt sich heraus: Diese Reise ins im Jahr 2015 von der Finanzkrise zerrütteten Spanien ist vor allem eine zu Sofia selbst.
"Ich habe eigentlich keinen Beruf, sondern eine Berufung und das ist Rose. Meine Mutter."
Ihr Anthropologiestudium und ihr Leben in London legt Sofia für diese hoffnungsschwere Reise mit ihrer Mutter auf Eis. Eine Odyssee über unzählige ÄrztInnen in Großbritannien liegt hinter ihnen, dies soll die letzte Reise sein. Das Geld dafür hat Rose sich bei der Bank geliehen, eine Klinik in Andalusien ist ihre letzte Chance.
In seiner luxuriösen Klinik mit Meerblick fährt Dr. Gomez, eine Koryphäe für Muskel-Skelett-Erkrankungen, schon nach ihrer Ankunft unkonventionelle Therapieformen auf. Diese wiederum bringen die notorisch pessimistische Rose schnell ihre Grenzen und verschaffen Sofia unerwarteten Freiraum, der sie unter anderem nach zehn Jahren erstmals zu ihrem Vater nach Griechenland führt.
"Das kann ich gut – meinen Tag verkleinern, um den ihren zu vergrößern."
Die Leserin lernt durch Sofias akribische Beobachtung zahlreiche BewohnerInnen im überschaubaren Kosmos der andalusischen Fischerstadt kennen – wie den attraktiven Studenten in der Sanitätsstation, der ihre schmerzhaften Medusenbisse versorgt oder die faszinierende und nicht weniger anziehende Deutsche, Ingrid Bauer.
Und Sofia verliebt sich. Doch in wen sie sich verliebt – oder nicht – wird weder Sofia noch der Leserin richtig klar. Und dieses diffus in der Hitze wabernde Unkonkrete ist symptomatisch für diesen Roman von Deborah Levy, dessen Stil, wie The Guardian schreibt, stark an Virginia Woolf erinnert.
Dabei fällt auf: trotz der Kulisse in der sonnenreichsten Stadt Spaniens scheint Sofia stets bemüht, sich nicht zu sehr zu amüsieren oder fallen zu lassen. Immer wieder drängt sich die Krankheit der Mutter ins Geschehen.
Die Auswirkungen der Krankheit von Rose auf Sofia sind dabei offensichtlich:
Auf die Frage des Sanitäters am Stand"Studiert ihr Anthropologen also primitive Völker?", antwortet Sofia lapidar:"Ja, aber die einzige primitive Person, die ich je studiert habe, bin ich selber".
Sofia analysiert ihr Umfeld ("Ich habe durchaus etwas zu tun... ich studiere Ingrid Bauer"), mit mehrfach brutalen Feststellungen "Erinnerung ist eine Bombe". Immer wieder zerlegt Sofia sich und ihre Wahrnehmungen peinlich genau selbst, was zugegebenermaßen als beobachtende Leserin teilweise sehr schwer erträglich ist.
Hot Milk – "Ist Heimat dort, wo die Rohmilch ist?"
Ob sie Griechin sei, fragt er. Daraufhin betet Sofia den üblichen Spruch runter: "Vater Grieche, Mutter Engländerin, in Großbritannien geboren"
Sofia wächst alleine bei Rose auf. Sie sind Mutter und Tochter, doch Sofia ist sich nicht sicher: "sind wir auch eine Familie?"
Ihre Kindheit beschreibt Sofia alles andere als "Idyllisch" – und so verwundert die eher morbide Mutter-Tochter Beziehung wenig. Ihr Vater, in sein Heimatland zurückgekehrt, erscheint hingegen lediglich als kühler Schatten ihrer Vergangenheit, der Sofia kaum mehr als ihren Nachnamen gab. Dass Christos´ Verlassen etwas mit der Krankheit ihrer Mutter, die immer wieder hypochondrische Züge annimmt, wird für Sofia immer wahrscheinlicher.
Das gnadenlose Verlangen der Mutter nach ihrer Tochter, welches sich nun in der Hitze Spaniens als ständiger Durst nach Wasser tarnt, ist ein Durst, der Sofia beinahe ertrinken lässt. Der Druck, die Wärme und das Gift der Medusenbisse auf der attackierten Haut Sofias, lässt beim Lesen eine einzigartige Stille entstehen, die vor allem die Dialoge hervorstechen lässt.
"Fragen und Antworten sind ein komplexer Code, genauso wie die Strukturen der Verwandtschaft"
Das Setting hat eine ganz eigene Dynamik und erscheint dabei wie aus jeglicher Zeitlichkeit gerissen. Es ist ein ungebrochener Fluss von Gedanken, Erinnerungen und Wahrnehmungen, die Deborah Levy poetisch und so intensiv formuliert, so dass hier aus Worten ganz konkrete Bilder entstehen können und sich zuweilen Schweißperlen auf der Stirn bilden – denn wie in ihrem vorherigen Roman "Heimschwimmen" legt sich auch in diesem Roman wieder eine zerreißende Spanung und Hitze über die Handlung.
AVIVA-Tipp: "Heiße Milch" ist ein besonderer Roman. Es gelingt der Autorin, die Sonne Spaniens, den Geschmack vom Salz des Meeres und die Intensität der Gefühle der jungen Frau unmittelbar spürbar zu machen und rückt eine Krankheit in den Fokus, die auch für die Angehörigen der Erkrankten tiefe emotionale Auswirkungen zur Folge haben kann.
Zur Autorin: Deborah Levy, 1959 in Johannesburg, Südafrika geboren, ist Bühnen- und Romanautorin und Mitglied der Fellow Royal Society of Literature.
Ihr Vater, Sohn jüdischer Eltern, die aus Litauen vor den Pogromen nach Südafrika flohen, wurde als Gegner des Apartheit Regimes und Mitglied des ANC (African National Congress) inhaftiert und sah sich anschließend im Jahr 1968 dazu gezwungen mit seiner Familie nach London zu emigrieren.
Nach ihrem Studium am Dartington College of Arts, welches Deborah Levy 1981 abschloss, war sie als unter anderem als Theater- und Drehbuchautorin für die Londoner Royal Shakespeare Company tätig und leitete in Cardiff die Manact Theatre Company.
Zwischen1989 und 1991 wirkte Levy als Creative Arts Fellow am renommierten Trinity College in Cambridge.
Bisher wurden drei Romane Deborah Levys ins Deutsche übersetzt: Heimschwimmen (2011), Black Vodka(2014) sowie " Was ich nicht wissen will" (2015) sowie Heiße Milch(2016). Ersterer wie auch Letzterer waren im Jahr 2012 und 2016 für den englischen Man Booker Prize for Fiction nominiert.
Darüber hinaus verfasste Levy in der Vergangenheit regelmäßig Beiträge für Fernsehen und Radio und veröffentlicht bis heute regelmäßig Artikel und Kritiken für die Printmedien wie The Independent oder The Guardian.
Mehr Infos zur Autorin: www.literature.britishcouncil.org
Zur Übersetzerin: Barbara Schaden studierte Romanistik und Turkologie in Wien und München. Nach einigen Jahren in der Filmbranche und im Verlagslektorat arbeitet sie seit 1992 vor allem als freiberufliche Übersetzerin aus dem Englischen, Französischen und Italienischen.
Deborah Levy
Heiße Milch
Originaltitel: Hot Milk
Aus dem Englischen von Barbara Schaden
Kiepenheuer & Witsch, erschienen Februar 2018
Gebunden mit Schutzumschlag, 288 Seiten
20,00 Euro
ISBN: 978-3-462-04977-0
Mehr Infos zum Buch unter: www.kiwi-verlag.de
Als Hörbuch (ungekürzt) auch auf Spotify verfügbar. Gelesen von Svenja Pages.
open.spotify.com
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Dieser Urlaub war schon ein Alptraum, bevor er überhaupt losging. Der weltbekannte Dichter Joe ist unberechenbar, depressiv und ein chronischer Fremdgänger, seine Frau Isabel, die weltgewandte Kriegsberichterstatterin hat ihn und seine Ausfälle längst gründlich satt und die gemeinsame Tochter kann für ihre Eltern bestenfalls Mitleid aufbringen. Das mitgereiste befreundete Ehepaar steht kurz vor dem Bankrott – beste Voraussetzungen also für ein komplettes Desaster. (2013)