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Beitrag vom 18.09.2018
Kerstin Decker - Franziska zu Reventlow. Eine Biografie
Silvy Pommerenke
Zum einhundertsten Todestag von Franziska zu Reventlow am 26. Juli 2018 hat die Philosophin und Redakteurin des "Tagesspiegel" Kerstin Decker die "Skandalgräfin" mit einer Biographie verewigt und zeichnet das Bild einer ungewöhnlichen und selbstbewussten Frau der Jahrhundertwende nach.
Früh schon glänzte Franziska zu Reventlow, die 1871 in Husum geboren wird, als Rebellin und Mädchen mit eigenem Willen. Sehr zum Missfallen ihrer Mutter, die sie (im Gegensatz zu ihren Brüdern), nicht nur körperlich züchtigt, sondern auch in das Altenburger Internat "Magdalenenstift" steckt, in dem es kaum weniger hart zugeht. Die Kritik Franziska gegenüber lautet: "Durch Mängel an Pflichttreue und Gewissenhaftigkeit war sie ein nachteiliges Beispiel für Andere." Diese Aussage führt schließlich zur unehrenhaften Entlassung Franziskas aus dem Internat.
Dieses vernichtende Urteil ist gleichzeitig eine Art Vorausschau auf das Leben der Adeligen, denn sie wird sich nie irgendwem unterordnen, schon gar nicht den gesellschaftlichen Zwängen. Was an diesem Orakel allerdings nicht stimmt ist, dass sie ein nachteiliges Beispiel für Andere sei. In Bezug auf die damaligen Verhaltensstandards für Mädchen und Frauen mag das zwar zutreffend sein, aber wenn der Blick etwa hundert Jahre in die Zukunft geht, so war Fanny zu Reventlow ein Vorbild für die 68er mit ihrer sexuellen Revolution. So hat die Reventlow unter anderem auch den Spitznamen die "Urgroßmutter der sexuellen Revolution" erhalten.
Für diejenigen, die mit der Vita der Reventlow nicht vertraut sind sei erklärt, dass Franziska zu Reventlow ein ungewöhnlich aktives Sexleben führte. Und das in einer Zeit, wo Prüderie an der Tagesordnung stand. Fanny nahm sich die Männer, die ihre gefielen (und ihr gefielen viele) – gerne auch mehrere parallel nebeneinander – und vor allem wollte sie sich nicht binden. So etwas Bürgerliches wie Heirat hatte sie eigentlich nicht im Sinn. Das hätte sie eingeengt und als Frau am Herd war sie sowieso völlig ungeeignet, da ihre Kochkünste und vor allem ihr Kochinteresse gegen Null liefen. Dennoch heiratete sie zweimal, aber das hatte überwiegend ökonomische Gründe. Und das ist – neben den zahllosen Liebschaften – ein weiterer Punkt, der etwas Besonderes in ihrem Leben darstellt. Obwohl aus adeligem Geschlecht, war sie zeitlebens mittellos. Was unter anderem darin begründet lag, dass sie sich von ihren Eltern losgesagt hatte und diese sie daraufhin enterbten. So musste sie – weil sie keinen Ehemann hatte, der sie materiell versorgte – zum großen Teil für ihren eigenen Unterhalt sorgen. Das tat sie, indem sie französischsprachige Bücher ins Deutsche übersetzte, Texte für Zeitungen und Romane schrieb (die bekanntesten Romane sind "Ellen Olestjerne" und "Herrn Dames Aufzeichnungen", beide autobiografischer Natur und auch bekannt als "Schwabinger Romane"), und Kurzgeschichten für ein größeres Publikum verfasste. Auch als Schauspielerin verdingte sie sich kurzfristig. Aber sie scheute sich auch nicht, Geld von Männern anzunehmen. Sei es, dass sie sich als Prostituierte verdingte, oder dass sie sich einfach von ihren jeweiligen Liebhabern aushalten ließ.
Bei all den sexuellen Kontakten und den damals noch nicht vorhandenen Verhütungsmitteln war es kaum verwunderlich, dass sie schwanger wurde. Mindestens zwei Fehlgeburten hatte Franziska zu Reventlow. Es folgten viele Unterleibs-Operationen und auch eine Abtreibung, die ihr sowohl psychisch als auch physisch sehr zugesetzt haben. Und dennoch schaffte sie es, eines ihrer Kinder auszutragen. Das wurde schließlich ihr größtes Glück: Sohn Rolf, der 1897 zur Welt kam, und den sie entgegen den klassischen Erziehungsmethoden erzog. Weder schickte sie ihn auf eine Schule, noch brachte sie ihm gesellschaftskonformes Verhalten bei. Eher wie ein Waldorfschüler wuchs er auf und hatte erstaunlicherweise immer Männer um sich herum, die ihn behandelten wie liebende Väter.
Franziskas Umfeld war auch alles andere als konventionell. Da sie sich in München zur Malerin hat ausbilden lassen, war sie schnell in KünstlerInnenkreisen zu Hause. Große Namen wie Rainer Maria Rilke, Erich Mühsam oder Frank Wedekind zählten zu ihrem Freundeskreis. Zu Frauen hatte sie eher weniger Kontakt. Lediglich Marianne von Werefkin oder Annette Kolb tauchen in ihrem Dunstkreis auf. Und weil Fanny lieber die Nähe zu Männern als zu Frauen suchte, konnte sie auch gar nichts mit den frühen Feministinnen anfangen und distanzierte sich bewusst von ihnen.
Wovon sie sich nicht distanzierte, war hingegen ausschweifendes Partyleben. Keine Feier ohne die "Skandalgräfin", keine Party ohne Fanny. Und dazu gehörten natürlich auch Alkohol, Drogen und Zigaretten. Bis zu fünfzig Stück täglich sollen es gewesen sein. Mengenangaben über den Alkohol gibt es nicht. Aber es muss zuviel gewesen sein, denn Fanny führt einen Nikotin- und Alkoholentzug in einem Schweizer Sanatorium durch. Finanziert wieder von irgendwelchen Liebhabern (der Bruder sprang bisweilen auch finanziell ein), denn sie selbst hätte nie für solch einen Luxus oder solch eine Notwendigkeit aufkommen können.
Wahrscheinlich nicht nur Geldnot, sondern einfach der Wille zu anarchischen Lebensmodellen führte zu wohl einer der ersten Wohngemeinschaften dieses Landes. Anfang 1900 gründet sie mit zwei Freunden eine WG in München. Wobei der eine Liebhaber, der andere Financier ist. Und Fanny mit ihrem Sohn immer mittendrin. Das alles ist aber nicht von langer Dauer. Das sieht ihr Lebenskonzept einfach nicht vor. Auch ihr Leben ist nicht von langer Dauer. Die junge Comtesse zu Reventlow (wobei sie mittlerweile verheiratete Baronin von Rechenberg-Linten war) starb mit nur 47 Jahren infolge eines Fahrradunfalls am Lago Maggiore, wo sie sich mittlerweile niedergelassen hatte.
Kurzweilig, im Erzählstil geschrieben, erzählt Kerstin Decker keine klassische Biographie, sondern stellt zahlreiche Vermutungen über die Reventlow an, assoziiert frei und untermauert ihre Gedankengänge mit Textpassagen aus dem literarischen Werk zu Reventlows, mit Tagebuchaufzeichnungen und mit Auszügen aus Briefen. Ob sich das alles tatsächlich so und nicht anders zugetragen hat? Nun, Vieles ist Vermutung - aber durchaus schlüssige Vermutung. Im Verlaufe der Biographie greift Kerstin Decker vermehrt zu poetologischem Schreiben – nähert sich in ihrem Sprachduktus und in der Erzählform nahezu der Reventlow an -, und das liest sich natürlich unterhaltsamer als manch andere Biographie, die rein auf Fakten und nüchterne Sprache ausgelegt ist. Allerdings wird Kerstin Decker dabei ein wenig zu poetisch und verliert sich bisweilen in ihren eigenen literarischen Ambitionen, denn so schön sich das auch liest, so schwierig ist es manchmal, die Personen wiederzuerkennen, die Decker aus dem Umfeld von Reventlow beschreibt. Das liegt unter anderem daran, dass Decker nicht die Klarnamen der Menschen (in der Regel Männer) benutzt, sondern dass sie ihnen zahlreiche Spitznamen verleiht. Da verliert sich die Leserin bisweilen in den Zeilen.
AVIVA-Tipp: Nichtsdestotrotz zeichnet Kerstin Decker ein umfangreiches Bild der "Skandalgräfin" nach, die wie eine Mischung aus Femme Fatale und Pippi Langstrumpf erscheint und selbst einhundert Jahre nach ihrem Tod immer noch etwas Faszinierendes hat.
Zur Autorin: Kerstin Decker , geboren 1962 in Leipzig, promovierte Philosophin, ist Redakteurin des "Tagesspiegel". Zahlreiche Buchveröffentlichungen, darunter "Lou Andreas-Salomé. Der bittersüße Funke Ich" und "Nietzsche und Wagner. Geschichte einer Hassliebe". Im Berlin Verlag erschien 2015 "Meine Farm in Afrika. Das Leben der Frieda von Bülow" und 2016 "Die Schwester. Das Leben der Elisabeth Förster-Nietzsche". Kerstin Decker lebt in Berlin. (Quelle: Verlagsinformationen)
Zu Franziska zu Reventlow wurde 1871 als fünftes von sechs Kindern in eine protestantische Adelsfamilie geboren und litt schon früh unter ihren konservativen Eltern. Ihr eigenwilliges und künstlerisches Gemüt trieb sie nach ungewollten Irrwegen durch Mädchenanstalten und Pfarrershäusern 1893 nach München, um sich zur Malerin ausbilden zu lassen. Zeit ihres Lebens hatte die von ihrer Familie verstoßene Gräfin mit Geldproblemen zu kämpfen, zweimal versuchte sie ihre wirtschaftlichen Probleme durch Heirat zu lösen. Sie arbeitete als Schriftstellerin, Malerin, Glaskünstlerin und als Prostituierte – letzterem gewann sie einen besonderen Reiz ab. Das Schreiben an ihren Büchern "Ellen Olestjerne" (1903), "Herrn Dames Aufzeichnungen" (1913) oder "Der Geldkomplex" (1916) empfand sie, wie jede andere Arbeit, immer als notwendiges wirtschaftliches Übel. Sie kämpfte ihr Leben lang mit schwerer Krankheit, Klinikaufenthalten und Fehlgeburten, im Alter von 47 starb sie an den Folgen eines Fahrradunfalls. Bereits ihr Zeitgenosse und Verehrer Rainer Maria Rilke bemerkte, das Leben der Franziska zu Reventlow sei "eins von denen, die erzählt werden müssen."
(Quellen: AVIVA-Rezension zur Biographie von Franziska zu Reventlow, FemBio Frauen-Biographieforschung e.V.)
Kerstin Decker
Franziska zu Reventlow
Eine Biografie
Berlin Verlag, erschienen Juni 2018
Gebunden mit Schutzumschlag, 384 Seiten
ISBN 3827013623
Euro 26,00
Mehr zum Buch unter: www.piper.de
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Franziska zu Reventlow - Von Paul zu Pedro. Amouresken
Ihren Spitznamen "Skandalgräfin" verstand "Fanny" zu Reventlow bisweilen als Kompliment, bewusst und eigensinnig führte sie ein Leben, das nicht nur aus dem Rahmen, sondern aus der Zeit fiel. So verbergen sich hinter dem amüsanten Plauderton ihres Briefromans essenzielle (Selbst-)Erkenntnisse, die mit visionärer Strahlkraft düstere Rollenklischees und antiquierte Lebensmodelle ausleuchten – und das bis in die Gegenwart hinein. (2013)
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