Künstlerinnen schreiben - Ausgewählte Beiträge zur Kunsttheorie aus drei Jahrhunderten. Herausgegeben von Renate Kroll und Susanne Gramatzki - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 10.09.2018


Künstlerinnen schreiben - Ausgewählte Beiträge zur Kunsttheorie aus drei Jahrhunderten. Herausgegeben von Renate Kroll und Susanne Gramatzki
Nora Rauschenbach

Tagebuchaufzeichnungen, Briefe, Erinnerungen, Manifeste, Essays vom Ancien Régime bis ins 21. Jahrhundert von sechzehn Künstlerinnen, darunter von der deutsch-jüdischen Malgraphikerin Gertrude Sandmann, der russischen Malerin Marie Bashkirtseff und der österreichischen Performancekünstlerin VALIE EXPORT. Fundiert und informativ kommentiert wurden diese schriftlichen Aufzeichnungen von Literaturwissenschaftler*innen und Kunsthistoriker*innen.




"Herauskristallisiert hat sich [...] das schöpferische Vermögen einer schreibenden Künstlerin, die für das Unbegreifliche, die Kunst, zunächst keine Sprache hat, nicht aber schweigen kann oder will", so Professorin Dr. Renate Kroll in ihrem einführenden Aufsatz "Kunsttheorie, die nicht eine ist: Zwischen Manifestation, Reflexion und Konfession".

Bisher wurden die Texte von Künstlerinnen in der Sprachforschung als Nebenprodukte und unselbständige Texte angesehen. Die Anthologie "Künstlerinnen schreiben" hat sich zum Ziel gesetzt, dieses Ungleichgewicht sichtbar zu machen und zeigt in der Auswahl der zahlreichen Aufzeichnungen die Unabhängigkeit dieser künstlerisch tätigen Frauen auf, aber auch die Herausforderungen, die sie meistern mussten.

Kunst und Gesellschaft

Die im Sammelband vertretenen Malerinnen, Bildhauerinnen, Skulpteurinnen und Zeichnerinnen schrieben über künstlerische Techniken, Materialien und Inspirationen, so wie Malerin Paula Modersohn-Becker in ihren Tagebüchern und Briefen: "Ich muß einmal ganz merkwürdige Farben malen. [...] Wir lesen jetzt ein Buch von Franz Servaes über Segantini. Otto ist so riesig angetan durch dessen Technik, die Farben rein mosaikartig nebeneinander zu setzen und dadurch eine konkrete leuchtende Wirkung zu erzeugen."

Doch auch die direkte Auseinandersetzung der Künstlerin im Kontext ihrer Zeit fand Eingang in die Aufzeichnungen. Die 1910 in Paris geborene Malerin Hélène de Beauvoir macht deutlich: "Ich glaube, dass meine Bilder aus der Realität geschaffen sind, aus den Ereignissen um mich herum und aus der Angst und Verzweiflung, die sie in mir auslösen."

In dem autobiographischen Text "20 x Porträt" der polnischen Bildhauerin und Textilkünstlerin Magdalena Abakanowicz bekommen wir Einblicke in die Kindheit der Künstlerin, "die sie in der Abgeschiedenheit der Natur im elterlichen Herrschaftshaus [...] bei Warschau" verbrachte. Dies und noch mehr können wir dem nachfolgenden Kommentar von Jadwiga Kamola entnehmen, den sie der Künstlerin zu ihrem Tod am 20. April 2017 gewidmet hat.
Unter anderem schrieb Magdalena Abakanowicz über ihre Erfahrungen während der Kriegsjahre im von den Nazis besetzten Polen: "An den Anfang kann ich mich nicht mehr erinnern. Es wurde geschossen, wir lagen auf der Straße. Mutter und wir zwei. Dann flüchteten alle, wir auch."

Selbständigkeit und Selbstbestimmtheit

Die Texte dieses Sammelbandes sind geprägt vom starken Bedürfnis zur Selbstfestlegung der Künstlerinnen.

So schrieb die jüdische, lesbische Malgraphikerin Gertrude Sandmann, die 1935 im NS-Regime Berufsverbot erhielt und 1942 in den Untergrund flüchten musste, in ihrem Tagebucheintrag von Januar 1919: "Der Trieb zur künstlerischen Arbeit ist größer, als der Trieb zur wohligen Einfügung in die Natur. Darum ist unsere Leistung größer, denn sie entsteht aus einer Bezwingung unserer primitiven Triebe"
Ihre starke Leidenschaft zur Kunst, die sie während der Kriegsjahre selbst im Versteck aufrecht erhalten hat, macht sie in einem Tagebucheintrag von 1940 deutlich: "Dann habe ich aus dieser schlimmen Zeit etwas Fruchtbares für mich machen können."

Auch die 1940-geborene, österreichische, feministische Performancekünstlerin VALIE EXPORT beschäftigt sich in ihren Texten mit Themenkomplexen wie "Selbstbestimmung" und "dem (gesellschaftlichen) Konflikt der Frau Beruf – Familie". Dies bringt sie unter anderem in ihrem Manifest "WOMAN´S ART" aus dem Jahr 1972 zum Ausdruck: "Die Kunst, die der Mann uns aufdrängt, verändern, bedeutet, die Facetten der Frau, die der Mann gebaut hat, zerstören" und in ihrem Gedicht "o.T." (1979):

"[...] das ist das leben das mir gehört
geschrien habe ich mit der stimme die mir gehört
gebissen habe ich mit den zähnen die mir gehören
gekratzt habe ich mit den nägeln die mir gehören [...]"


Formen und Texte

EXPORTs Texte haben ihre eigene Form, eine künstlerische. Sie sind keine von Denkpausen gekennzeichneten Tagebucheintragungen, doch eine starke Struktur ist bemerkbar:
Die Künstlerin spielt mit Formen und setzt sie bewusst ein, wie die Verwendung von Slashes anstelle von Kommata: "Gedankenflüssigkeit / Flexibilität / Variabilität der Gedanken / Verifikation [...]"
In ihrem Gedicht "o.T." aus dem Jahr 1979 ist jedes Wort klein geschrieben und EXPORTs "Mediale Anagramme" von 1990 sind formal wieder anders aufgebaut: Nicht nur, dass sie hier komplett auf Umlaute verzichtet, die Autorin bringt auch in jeder Zeile einen Abstand unter, der sich wie eine Spur durch den Text zieht.

Durch diese besondere Beziehung von Form und Sprache gelingt es VALIE EXPORT, die Message in ihren Texten noch zu unterstreichen und hervorzuheben und uns als Leser*innen ein Fünkchen mehr von der Aufmerksamkeit abzuverlangen, die die schreibenden Künstlerinnen verdienen.

Die Künstlerinnen im Überblick:
Elisabeth Vigée Le Brun (1755 – 1842)
Julie Hagen Schwarz (1824 – 1902)
Marie Bashkirtseff (1858 – 1884)
Marianne von Werefkin (1860 – 1938)
Paula Modersohn‐Becker (1876 – 1907)
Charlotte Berend‐Corinth (1880 – 1967)
Gertrude Sandmann (1893 – 1981)
Varvara Stepanova (1894 – 1958)
Barbara Hepworth (1903 – 1975)
Hélène de Beauvoir (1910 – 2001)
Louise Bourgeois (1911 – 2010)
Agnes Martin (1912 – 2004)
Meret Oppenheim (1913 – 1985)
Magdalena Abakanowicz (1930 – 2017)
Valie Export (geboren 1940)
Nanne Meyer (geboren 1953)

AVIVA-Tipp: Die von den Kunsthistoriker*innen und Literaturwissenschaftler*innen ausgewählten schriftlichen Aufzeichnungen dieser Anthologie machen vor allem die prägnante Gesellschaftskritik sichtbar, die von den persönlichen Erfahrungen der Künstlerinnen zeugt. Diese Texte sind keine Nebenprodukte der Kunstwerke, sie stehen für sich.
Die Kommentare reichern die Aufzeichnungen gelungen mit Zusatzinformationen und Denkanstößen an.

Zu den Herausgeberinnen:

Prof. Dr. Renate Kroll
studierte Romanistik und Anglistik in Gießen. 1983 promovierte sie in Romanischer Literaturwissenschaft, von 1995 bis zu ihrer Pensionierung 2008 lehrte sie an der Universität Siegen. Seit 2009 ist Prof. Dr. Kroll Seniorinprofessorin an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Dr. Susanne Gramatzki ist als romanische Literaturwissenschaftlerin an der Universität Wuppertal tätig.

Die Autor*innen: Anna-Dorothea Ludewig, Potsdam/Berlin, Lena Fritsch, London, Anna Bers, Göttingen, Christin Conrad, Lüneburg, Stephanie Hauschild, Darmstadt, Anne Schülke, Düsseldorf, Jadwiga Kamola, Berlin, Christiane Post, Berlin, Sophie König, Hamburg, Tatjana Kuharenoka, Riga, Katrin Ströbel, Nizza, Anna Havemann, Potsdam, Verena Borgmann, Bremen, Christoph Benjamin Schulz, Wuppertal, Susanne Gramatzki, Wuppertal

Renate Kroll, Susanne Gramatzki (Hrsg.)
KÜNSTLERINNEN SCHREIBEN

Reimer Verlag, erschienen Dezember 2017
270 Seiten, Broschur, 1 SW- und 15 Farbabbildungen
EUR 29,90
ISBN: 978-3-496-01582-6
Mehr Infos zum Buch unter: www.reimer-mann-verlag.de

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Literatur

Beitrag vom 10.09.2018

Nora Rauschenbach