Alma M. Karlin - Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Weltreisenden - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 29.04.2018


Alma M. Karlin - Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Weltreisenden
Bärbel Gerdes

Eine Frau, die mehr als zehn Sprachen spricht, eine Frau, die die berühmteste Reiseschriftstellerin zwischen den beiden Weltkriegen wird. Eine Frau, die halbseitig gelähmt auf die Welt kommt und ein Leben in Einsamkeit lernt. In ihrer schonungslosen Autobiographie ihrer ersten 30 Jahre nimmt uns Alma Karlin mit auf eine harte Lebensreise.




"Meine Kindheit (die wenigen spaßhaften Erlebnisse abgerechnet, die komischer im Rückblick als im Erleben sind) war eine geschlossene Kette von Augenblende, Ohrenlatscherln, Salzbädern, Thymianreibungen, lästigem Nachmittagsschlaf, Arztbesuchen, aufgenötigtem Schabefleisch und Berufungen auf den sagenhaften Herrn ´Es schickt sich nicht!´"

So die Zusammenfassung einer Kindheit, die 1889 in Cilli (slowenisch Celtje) im damaligen Österreich-Ungarn begann. Mit einem Kind hatten die 45jährige Lehrerin und der 60jährige Major überhaupt nicht mehr gerechnet. Als es dann zur Welt kam, war es halbseitig gelähmt und würde – laut ärztlicher Prognose – wegen eines ´Wasserkopfes" lebenslang geistig behindert bleiben.
Während sie in ihrem Vater zumindest eine gewisse Bestätigung und positive Beachtung findet, liefert die Mutter ihrer Tochter zahlreicher Torturen aus: die Augen sollen gerichtet, die Ohren an den Kopf gedrückt werden. Gerade soll sich das Mädchen halten, weshalb sie täglich zu mehreren Stunden Übungen gezwungen wird.
Das Kindermädchen Mimi berichtet ihr von ihren Liebesabenteuern und verdonnert das Kind zum Stillschweigen.

Die politische Situation macht das Leben nicht einfacher. Die Familien mutter- und väterlicherseits befinden sich auf unterschiedlichen Seiten: der deutschen und der slowenischen. Die Spannungen dieser beiden Volksgruppen nehmen im Zuge von Nationalismen stetig zu.

Alma selbst lernt vor allem Ausgrenzung aufgrund ihres Andersseins. Mimi ermahnt sie zu Bescheidenheit, weil ihre "Ansprüche an das Sein dieser Benachteiligung wegen angeblich geringere sein müssten." Sie wird angestarrt und angesprochen, unverschämte Fragen werden in einem Ton gestellt, "in dem man einen Fuhrmann fragt, warum sein Pferd hinkt. Täglich konfrontiert mit den ihrer Mutter, beginnt Alma für diese nur noch Abneigung zu empfinden. Sie droht mit Selbstmord, als ihre Mutter sie in eine orthopädische Klinik einliefern will.
Als ihr Vater plötzlich stirbt, ist dies für die Achtjährige eine Katastrophe.

Alma flüchtet sich in eine Welt der Literatur und der romantischen Träume. Sie sehnt sich nach einem Märchenprinzen, der sie von ihrem furchtbaren Dasein erlöst. Eines Tages erhält sie einen Brief von einem unbekannten Mann, der ihre Bekanntschaft machen möchte. Ein Treffen sei jedoch aufgrund eines strengen Haushofmeisters nicht möglich. Schnell entwickelt sich eine rege Korrespondenz. Alma fühlt sich beachtet, geliebt. "Ich wurde sanfter, gefälliger: ich hing mit mehr Geduld von Ringen und Leitern, lag klagloser auf dem harten Brett." Fünf Jahre besteht dieser Briefwechsel, bis Alma erkennt, dass Mimi dahinter steckt. Den Erlöserprinz gibt es nicht. "Als ich endlich sehend wurde, brach etwas in mir – ein Glaube an die Menschen, eine Liebesfähigkeit, ein Glücksvermögen."

Wie dieses Mädchen es schafft, sich daraus zu befreien, ist beeindruckend und erstaunlich. Sie legt mit achtzehn Jahren zwei Staatsprüfungen für das Lehramt ab und erlebt auf einer Reise mit ihrer Mutter Venedig, Paris und London. Sie entschließt sich, in London zu leben, denn "der Himmel Großbritanniens hat etwas Tröstendes für Menschen, in deren Innern grauenvolles Dunkel herrscht."

In einem Übersetzungsbüro bekommt sie eine Anstellung. Fortan arbeitet sie dort bis zur Erschöpfung. Im Winter ist das Büro eiskalt, so dass sie kaum an der Maschine schreiben kann. Nachts lernt sie neue Sprachen. Sie nimmt Privatstunden bei Indern, Chinesen, Japanern und besucht jeden Sonntag eine schwedische Seemannskirche, um diese Sprache zu lernen.

Doch ihr Leben ist geprägt von einer tiefgehenden Einsamkeit, die sie versucht anzuerkennen, und einer strengen Selbstzucht. "Tag auf Tag die langen Bürostunden, wieder frierend, den Magen leer, alles zu weiteren Studien sparend und vom Leben dunkel etwas erwartend, das nie eintraf.

1914 legt sie erfolgreich Examina in Englisch, Schwedisch, Norwegisch, Dänisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Russisch ab, daneben lernte sie Sanskrit, Chinesisch und Japanisch.

Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird ihr Leben als ´feindliche Ausländerin" zunehmend schwierig. Sie lebt in Norwegen und Schweden, geht nach Celje zurück und gründet dort eine Privatschule. Mit dem ersparten Geld beginnt sie ab 1919 die Welt zu bereisen. Acht Jahre ist sie unterwegs, und auch in dieser Zeit begegnen ihr Einsamkeit, Hunger, Krankheit und Gewalt. 1927 kehrt sie vollkommen erschöpft zurück nach Celtje. Dort beginnt sie mit dem Schreiben ihrer Reiseberichte, die sie zur erfolgreichsten Reiseschriftstellerin machen. "Die hochintelligente Frau begeistert mit Witz, Ironie und einer scharfsinnigen Beobachtungsgabe, wie es in dem überaus informativen Nachwort von Jerneja Jezernik heißt.
1931 lernt sie die Malerin Thea Schreiber-Gammelin kennen, die 1934 zu ihr zieht und zu ihrer engen Freundin, Sekretärin, Literaturagentin und Illustratorin ihrer Werke wird. Die beiden sind im Bergdorf Svetina gemeinsam begraben.

1933 wird auch für Alma Karlin zur Zäsur. Während sich viele ihrer Bekannten und Verwandten aus der deutschen Minderheit mit dem Nationalsozialismus identifizierten, half sie politischen Flüchtlingen meist jüdischer Herkunft durch finanzielle Unterstützung und indem sie ihnen Unterschlupf in ihrem Haus gewährte. Bei der Besetzung durch deutsche Truppen im Jahre 1941 ist Karlin eine der Ersten, die verhaftet wird.
1944 wird sie entlassen und schließt sich sofort dem slowenischen Widerstand an. Doch auch dies ist nicht ungebrochen: sie ist keine Kommunistin, so dass sie auch bei den PartisanInnen ihr Leben riskiert. Sie erkrankt an Brustkrebs, kämpft aber weiter.

Nach dem Kriegsende kann sie ihre Texte im deutschsprachigen Ausland nicht mehr vermarkten, weil ihr ein Reisepass verwehrt wird. Sie gerät in Vergessenheit und stirbt verarmt und ohne ärztliche Betreuung im Januar 1950.

AVIVA-Tipp: Trotz ihrer furchtbaren Kindheitserlebnisse ist Ein Mensch wird ein Mut machendes und fesselndes Buch. Ihr Kampfgeist zeigt sich auf jeder Seite gemeinsam mit ihrer Feststellung: "Der Unterordnungsknoten in meiner Schädelbildung war überhaupt ein sehr zurückgebliebener, wenn nicht ganz verkümmerter."

Zur Autorin: Alma Maximiliana Karlin wurde am 12. Oktober 1889 im österreichisch-ungarischen Celje geboren. 1908 zog sie nach London, arbeitete in einem Übersetzungsbüro und lernte mehr als zehn Fremdsprachen. 1914 legte sie Examina in acht Sprachen ab. 1919 begann ihre achtjährige Weltreise. Die daraus resultierenden Reiseberichte machten sie zur bekanntesten Reiseschriftstellerin. Daneben schrieb sie Romane und Gedichte. Ihr Buch Windlichter des Todes (1933) beeindruckte die schwedische Schriftstellerin und Nobelpreisträgerin Selma Lagerlöf so sehr, dass sie Karlin für den Nobelpreis für Literatur nominierte. Ab 1933 half Alma Karlin politischen Flüchtlingen meist jüdischer Herkunft durch finanzielle Unterstützung und indem sie ihnen Unterschlupf in ihrem Haus gewährte. 1941 wurde sie verhaftet, ihre Bücher verboten. Nach der Haftentlassung 1944 schloss sie sich dem slowenischen Widerstand an. Alma Karlin starb am 14. Januar 1950.

Zur Herausgeberin: Jerneja Jezernik wurde 1970 in Celje/Slowenien geboren, studierte Deutsch und Slowenisch in Ljubljana und war mehrere Jahre in Deutschland und in Österreich als Sprachlehrerin, Redakteurin und Leiterin einer Slowenischen Studienbibliothek tätig. Jerneja Jezernik hat Alma M. Karlins Werke ins Slowenische übersetzt und verfasste 2009 die erste Monografie über Alma M. Karlin, auf die 2016 eine umfangreichere Biografie folgte. Sie lebt als freie Redakteurin und Lektorin, Schriftstellerin und Übersetzerin in Ljubljana. (Verlagsinfo)

Alma M. Karlin: Ein Mensch wird. Auf dem Weg zur Weltreisenden
Herausgegeben und mit einem Nachwort von Jerneja Jezernik
AvivA Verlag, erschienen 2018
Gebunden, 320 Seiten, mit Leseband
ISBN 978-3-932338-69-4
20.00 Euro
Mehr zum Buch und zur Autorin unter: www.aviva-verlag.de

Mehr Informationen zu über Alma M. Karlin auf dem Webportal:

www.almakarlin.si

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Das Löwenmädchen. Ein Film von Regisseurin Vibeke Idsøe nach dem Roman von Erik Fosnes Hansen
Von der verstoßenen Außenseiterin zur angesehenen Wissenschaftlerin: das gefühlvolle Portrait einer starken Frau, die ihres ungewöhnlichen Aussehens zum Trotz mit unbeirrter Willenskraft ihr Leben meistert. (2017)

Annemarie Schwarzenbach - Orientreisen. Reportagen aus der Fremde. Zum 75. Geburtstag von Annemarie Schwarzenbach am 15. November 2017
Ein schmales Buch mit einer Auswahl aussagekräftiger Texte, die nicht nur das fremde Außen schildern, sondern auch Einblicke gestatten in den emotionalen Zustand der Autorin, die besessen war vom Reisen und vom Schreiben. (2017)

Nellie Bly - Around the World in 72 Days. Die schnellste Frau des 19. Jahrhunderts
Die amerikanische Journalistin, Kriegsreporterin und Theaterkritikerin im Wettlauf gegen Jules Verne – ein rasender Reisebericht durch die Kolonien des 19. Jahrhunderts. Erschienen im AvivA-Verlag. (2013)



Literatur

Beitrag vom 29.04.2018

Bärbel Gerdes