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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 13.11.2017


Maryse Wolinski - Schatz, ich geh zu Charlie!
Pieke Biermann

Ein schmales Buch, ein unbekümmerter Titel, verliebte Post-Its auf dem Umschlag: "… seit 44 Jahren liebe ich dich, und es ist nicht zu Ende – G." Das kommt so idyllisch daher, dass bei Allround-SkeptikerInnen alle Warnlämpchen blinken, auch wenn sie nicht schon wissen, was Maryse Wolinski erzählt.




Und in der Tat, sie zieht einen sofort in ein kontra-idyllisches Drama: ihrs. Und sie kann schreiben, sie ist Bestsellerautorin, jedenfalls in Frankreich. Auf Deutsch erschien 1998 nur ein einziger Roman von ihr. Dass jetzt ein zweites Buch übersetzt wurde, liegt nicht an der Unberechenbarkeit literarischer Entdeckungen, sondern an einem grausamen außerliterarischen Ereignis: Ihr Mann saß am 7. Januar 2015 in der Redaktion von CHARLIE HEBDO, als zwei Jung-Dschihadisten mit Kriegswaffen sie in ein Blutbad verwandelten. Mit ihm starben in nur fünf Minuten noch elf Menschen, acht wurden schwer verletzt und noch viele mehr traumatisiert.

Georges Wolinski war 80, ein berühmter Zeichner, Kämpfer für die Freiheit auch der Satire, geboren in Tunis als Kind polnisch-italienischer Juden. Maryse Wolinskis Geburtsort heißt Algier. Die Mörder haben algerische Vorfahren und Kalaschnikows. Bei CHARLIE arbeiteten seit je Veteranen der Befreiung des Maghreb vom Kolonialismus, 1992 hieß eine Firma zur Rettung der Zeitung ausgerechnet SARL Kalachnikov. Französische Paradoxien, gespiegelt im Titel zu diesem Buch: "Chérie, je vais à Charlie!" G.s Abschiedssatz bleibt Maryse Wolinski im Ohr wie die Liebe in ihrem Körper. Ohne Ende.

Ihre Erzählung ist eine erschütternde Mischung: zugleich offener Liebesbrief, geschrieben von der "rebellischen Muse" eines "ewigen Phallokraten", ohne dessen Blick sie nicht leben kann, und nüchterne Reportage über die Frage, wie das Massaker möglich war. Sie selbst schwankt zwischen Fassungslosigkeit und Aktivismus, versucht es mit Verleugnung, bis schließlich der Zorn sie packt und sie anfängt zu recherchieren: bei Überlebenden, bei allen für die Sicherheit von CHARLIE HEBDO verantwortlichen Behörden. Warum wurden, trotz neuer Warnungen, das Polizeiauto vor dem Haus und die Hälfte der Personenschützer abgezogen, warum gab es noch immer drei offene Zugänge zum Gebäude und weder Sicherheitsschleuse noch Fluchtwege in der Redaktion? Hatte die mangelhafte Ausrüstung und Ausbildung der Bewacher zu tun mit dem Gemurre von Gewerkschaftlern über die "Luxusbewachung" von ein paar – dubiosen! – JournalistInnen?

In 15 Kapiteln reflektiert sie zwei Ebenen: Was geht in mir drinnen vor, was draußen? Sie protokolliert schonungslos, in Bezug auf sich selbst wie auf den Mythos CHARLIE, die Querelen, die ewig prekären Finanzen. Vielleicht wären damals alle bald arbeitslos geworden – plötzlich sind die meisten tot, und der Rest hat prekär viel Geld. Aber das ist nicht ihr Problem. Für sie, die "Kriegswitwe", geht es nur ums Überleben. Darum, wie sie das verzweifelte: "Wer bringt mich denn jetzt zum Lachen?" verwandeln kann in die Fähigkeit, "Georges fortfliegen zu lassen".

Zur Autorin: Maryse Wolinski, geboren als Maryse Bachère am 3. Mai 1943 in Algier, Algerien, ist Journalistin und Autorin, sie hat zahlreiche Bücher verfasst, zuletzt u.a. "Goerges, si tu savais" (2011) und "La Passion d Edith S." (2014). Ihr ermordeter Mann Georges Wolinski (1934-2015) war als Comic Zeichner berühmt für die Verbindung linker Politik und erotischer Themen und gehörte seit den 60er Jahren zu den wichtigsten Karikaturisten zahlreicher französischer Zeitschriften.
Mehr Infos zu Maryse Wolinski: www.marysewolinski.com

Maryse Wolinski
Schatz, ich geh zu Charlie!

Originaltitel: Chérie, je vais à Charlie!
aus dem Französischen von Dieter Hornig und Katrin Tomaneck
Residenz Verlag, Salzburg-Wien, erschienen Januar 2017
144 Seiten, gebunden
19,00 EUR
Mehr Infos: www.residenzverlag.com

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Dieser Artikel ist zuerst erschienen auf Deutschlandfunk Kultur und wurde AVIVA-Berlin von der Autorin Pieke Biermann zur Verfügung gestellt.


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Beitrag vom 13.11.2017

AVIVA-Redaktion