Heidi Benneckenstein - Ein Deutsches Mädchen. Mein Leben in einer deutschen Neonazi-Familie - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 03.11.2017


Heidi Benneckenstein - Ein Deutsches Mädchen. Mein Leben in einer deutschen Neonazi-Familie
Lisa Goldberg

Heidi war Nazi. Zu hundert Prozent. Mit ihrer Lebensgeschichte eines im Rechten Hass-Milieu aufgewachsenen Mädchens hat Heidi Benneckenstein nach ihrem Ausstieg ein selbstreflektiertes Zeitzeugnis zur Nazi-Ideologie in Deutschland geschaffen. Ihr Buch gibt eine detaillierte Einsicht in die Struktur einer Szene, deren Ziel es ist, ihrer Jugend rechtsextremes Gedankengut zu indoktrinieren.




Es ist nicht unüblich, dass Menschen sich nach einem radikalen Lebenswandel autobiografisch betätigen – mit Heidi Benneckenstein meldet sich allerdings (erstmals) eine Frau zu Wort, die in eine Neonazifamilie hineingeboren wurde und die sich mit ihrem Ausstieg aus der rechtsextremen Szene kritisch auseinander gesetzt hat. Im Gegensatz zu vielen anderen jungen Neonazis, die erst im Jugendalter der Szene beitraten, wurde Heidi von frühester Kindheit an in ein rechtes Milieu hinein erzogen. Im Jahr 1992 als Heidrun Redecker geboren, erlebte "Heidi" eine von Angst und Gewalt geprägte Kindheit – versehen mit einer nationalen, rassistischen Weltanschauung.

"Bis ich 18 war, kannte ich nur Nazis"

Nachdem ein Redakteur der Bild-Zeitung Interesse an Heidis Geschichte zeigte, sich dann allerdings nicht mehr meldete, fasste Heidi zwei Jahre später einen Entschluss. "Die Idee [...] ließ mich nicht mehr los. Ich spürte, dass er in einem Punkt Recht gehabt hatte: Mein Leben war krass. Ich hatte was zu erzählen. Und meine Geschichte war relevant, gerade heute, wo überall in Deutschland nationale Bewegungen an Zulauf gewinnen und viele Menschen sich fragen, wie es möglich sein kann, dass eine rechtspopulistische Partei wie die AFD in ein Parlament nach dem anderen einzieht."

Willkommen in der Realität

Mit Einzug der AfD in den Bundestag und dem sich nähernden Ende des zähen NSU-Prozesses rücken Diskurse bezüglich der rechtsextremen Szene zwar wieder in den Vordergrund des medialen Interesses, jedoch wird dabei immer wieder ein recht einseitiges und vor allem vereinfachtes Bild reproduziert. Dieses bedient Stereotype von "ungebildeten, frustrierten Proleten, ostdeutschen Verlierern und einer männlichen chauvinistischen ausländerfeindlichen Szene". Rechtsextremismus ist jedoch nicht, wie der Begriff selbst suggeriert, ein Randphänomen einer kleinen extreme rechten Gruppe, sondern der Inbegriff eines fest etablierten Gedankengutes zu vieler Mitbürger*innen.
Dies zeigte 2016 unter anderem die "Mitte-Studie" ("Die enthemmte Mitte. Autoritäre und rechtsextreme Einstellung in Deutschland") der Uni Leipzig. Seit 2002 beschäftigt sich diese Studie im Zwei-Jahres-Rhythmus mit rechtsextremen Gedankengut und der Frage, wie weit Ressentiments und Vorurteile unter deutschen Bürger*innen verbreitet sind. Die Zahlen aus 2016 belegen, dass sich rechtsextreme und populistische Einstellungen kaum geändert haben.

Rechte Frauen, getarnt als "Heimchen am Herd"

"Ein Deutsches Mädchen – Mein Leben in einer deutschen Neonazi-Familie" sensibilisiert die Leserin und den Leser für die Tatsache, dass rechtsextreme Frauen als rassistische, fanatische Gesinnungsträgerinnen kaum wahrgenommen werden und ihr rechtsextremes Engagement in der Öffentlichkeit und den Medien häufig verdrängt wird. Die Brisanz dieses derartigen Trugschlusses sollte spätestens seit dem NSU-Prozess und der Beteiligung Beate Zschäpes deutlich geworden sein. Dennoch haftet vielen Rechten Sympathisantinnen und Wählerinnen noch häufig das Image einer "privat ganz netten Frau" an.

Dem Bild eines brutalen und chauvinistischen Nazikameraden entsprechen häufig nur Männer, wohingegen die Frauen der Szene lediglich als deren treuen, naiven Anhängsel gesehen werden. Heidis Biografie widerlegt diese vereinfachte Annahme beispielhaft und der aktuelle Prozess um Beate Zschäpe zeigt, dass dieser Umstand von der Rechten Szene ganz bewusst instrumentalisiert wird, indem Neonazistinnen, getarnt etwa als hilfsbereite Nachbarin oder fürsorgliche Mutter, als Sympathie-Trägerinnen fungieren, mit denen sich jedefrau und jedermann identifizieren kann.

Eine Rechte Kindheit und Jugend

Die Leser*in wird konfrontiert mit dem Leben Heidrun Redeckers, die in einer Familie aufwächst, welche mit rassistischem und völkischem Gedankengut mehr als nur sympathisiert.
So drillt vor allem der Vater, der Holocaustleugner Helge Redeker, seine Töchter mit Rechtem Gedankengut. Am Abend bevor Heidi mit ihrer Schulklasse zur Gedenkstätte nach Dachau fahren soll, macht Heidis Vater ihr deutlich, es sei ihm wichtig, dass sie an dieser Klassenfahrt teilnehme: "Denn der Holocaust war für meinen Vater eine Lüge. Wer wisse schon, ob in den Lagern Menschen verbrannt worden seien. Wer wisse, was wirklich passiert sei?"

Es stellt sich die Frage, wie in Deutschland derartig organisiert antisemitisches Gedankengut unentdeckt an Kinder weitervermittelt und beispielsweise in Organisationen wie der HDJ (Heimattreue Deutsche Jugend: ein heute verbotener Jugendverband der NPD), in der Heidi ihre Ferien verbrachte, manifestiert werden kann. Nicht nur das, bis heute werden immer wieder Verbände mit menschenverachtenden Ideologien gegründet und lange genug geduldet, so dass sich erfolgreich ein Rechter Nachwuchs bilden kann. Die Organisationen von Kameradschaften, Rockerbanden und Splitterparteien wie "Die Rechte" (DR) oder "Der III. Weg" sind breit aufgestellt und straff durchorganisiert. Durch die unübersichtliche Gestaltung der Szene werden Mitgliedern bereits verbotener (oder von einem Verbot bedrohter) "Kameradschaften" immer wieder neue Alternativen geboten.

Die konspirativen Ferienlager der HDJ waren dem "Dritten Reich" nachempfunden. Wettkampf und Abhärtung standen im Zentrum der Ferienaktivitäten und die Zelte waren mit Namen wie "der Führerbunker" versehen.
Diese Form der Erziehung trug im Fall von Heidi Früchte. Im Alter von 15 Jahren nahm die junge Frau an Rechten Aufmärschen teil, war gewaltbereit und prügelte einen Journalisten nieder. Als aktives Mitglied der NPD trieb sie deren menschenverachtende Parolen aktiv voran. Heidi lebte die Rechte Ideologie, und ihr Umfeld bestand zu diesem Zeitpunkt größtenteils aus Nazis, von denen bis heute viele polizeibekannt sind.
In diesem Milieu macht Heidi eine für ihre Zukunft wegweisende Begegnung.
Sie trifft auf Felix, in der Neonazi-Szene bekannt als Liedermacher "Flex". Gemeinsam mit ihm schöpft sie Jahre später die Kraft zum endgültigen Ausstieg aus der Rechtsextremen Szene. Mit 19 Jahren begann für Heidi ein neues, zweites Leben.

Heute

Mit 24 Jahren entschließt sich Heidi die Erfahrungen ihres vorherigen Lebens niederzuschreiben und den Kampf gegen Rechts aktiv anzugehen. Heidi und Felix haben mittlerweile ihren Schulabschluss nachgeholt, eine Ausbildung gemacht und in München eine Aussteigerhilfe gegründet. Sie gehen regelmäßig deutschlandweit auf Reisen, um Jugendliche durch Gespräche in Schulen aufzuklären.
Heute lebt Heidi mit ihrer Familie in München und arbeitet als Erzieherin in einem Kindergarten.

AVIVA-Tipp: Absolut lesenswert. Ein Deutsches Mädchen – Mein Leben in einer Neonazi-Familie ist hochaktuell und gibt der Leser*in durch eine authentische, weibliche Perspektive Einblick in eine von der demokratischen Öffentlichkeit weitestgehend ignorierte Parallelwelt. Die Thematik des Buches und die detaillierte Schilderung der Rechen Szene ist keine leichte Kost, bietet jedoch neue Einblicke in die Struktur der zeitgenössischen Neonazi-Szene. Mit ihrer Geschichte des Ausstiegs aus der Naziszene kann Heidi Benneckenstein anderen Frauen Mut machen, den Absprung aus der Rechtsextremen Szene zu wagen.

Zur Autorin: Heidi Benneckenstein wurde im April 1992 als Heidrun Redeker in eine Neonazi-Familie hinein geboren. Aufgewachsen ist sie in einem kleinen idyllischen Dorf im Umland von München, erzogen von ihren rechtsextremen Eltern nach "völkischer" Ideologie.Mit 24 Jahren entschließt sich Heidi die Erfahrungen ihres Ausstiegs aus Neonaziszene niederzuschreiben und den Kampf gegen Rechts aktiv anzugehen.
Heute lebt Heidi mit ihrer Familie in München und arbeitet als Erzieherin in einem Kindergarten.

Der Journalist Tobias Haberl, geboren am 23. Juli 1975 im Bayerischen Wald, ist hauptsächlich beim SZ-Magazin tätig. Er ist Mitherausgeber der beiden Bände "Sagen Sie jetzt nichts" und veröffentlichte 2011 "Wie ich mal rot wurde: Mein Jahr in der Linkspartei".


Heidi Benneckenstein (unter Mitarbeit von Tobias Haberl)
Ein Deutsches Mädchen. Mein Leben in einer deutschen Neonazi-Familie

Tropen Verlag /Klett-Cotta Verlag, erschienen Oktober 2017
Taschenbuch, 252 Seiten
ISBN: 978-3-608-50375-3
16,95 Euro
Mehr Informationen zum Buch sowie Veranstaltungshinweise unter: www.klett-cotta.de

Das Buch "Ein Deutsches Mädchen-Mein Leben in einer deutschen Neonazi-Familie" erscheint auch in gekürzter und erläuterter Form in Zusammenarbeit mit dem Klett-Verlag als Schulausgabe.

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Esther Lehnert und Heike Radvan - Rechtsextreme Frauen. Analysen und Handlungsempfehlungen für soziale Arbeit und Pädagogik (2016)
Die Autorinnen Lehnert und Radvan, beide tätig in der Fachstelle für Gender und Rechtsextremismus der Amadeu-Antonio-Stiftung, beleuchten ein unterschätztes Phänomen und plädieren für eine genderreflektierte Haltung gegenüber Rechtsextremismus, nicht nur im Bereich der sozialen Arbeit und Pädagogik.

Privat ist die sehr nett
Mit freundlicher Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft: Wie Nazifrauen Politik machen. Ein Beitrag von Stella Hindemith, Fachstelle Gender und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung. (2014)

Das Kartell der Verharmloser - Wie deutsche Behörden systematisch rechtsextremen Alltagsterror bagatellisieren
Im Auftrag der Amadeu Antonio Stiftung reiste die Journalistin Marion Kraske durch acht Bundesländer, um die Arbeit von Initiativen gegen rechte Gewalt zu dokumentieren. Dabei entstand ein ernüchternder Bericht über systematisches Staatsversagen, der ab sofort bei der Amadeu Antonio Stiftung bestellt werden kann. (2012)

Kriegerin. Ein Film von David Wnendt mit Alina Levshin und Jella Haase. Ab 9. Oktober 2012 auf DVD/BluRay (2012) Ein kompromissloses, differenziertes und schmerzliches Sozialdrama, angesiedelt in der Neonazi-Szene, bei dem sich die Grenze von Fiktion und gegenwärtiger Realität bestürzend aufzulösen scheint.

Kathrin Kompisch - Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus
Die NS-Täterinnen waren jahrzehntelang aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Kathrin Kompisch untersucht, in welchen Bereichen Frauen an den Verbrechen der NS-Diktatur beteiligt waren. Die Geschichtsforschung zur NS-Diktatur war lange Zeit ausschließlich auf die männlichen Täter und Mitläufer fokussiert. (2009)

Holger Kulick und Toralf Staud - Das Buch gegen Nazis
Unwissenheit und mangelnde Sensibilität im Umgang mit rechtsextremem Gedankengut sind ein oft unterschätztes Problem unserer Gesellschaft. "Das Buch gegen Nazis" versucht, diese Lücke zu schließen. (2009)

Rechtsextremismus ist auch Frauensache
Wie der stern (45/2007) berichtet, hat die NPD Frauen als Sympathieträgerinnen für "Rechte Anliegen" neu entdeckt. Auch Mut-Gegen-Rechte-Gewalt.de untersucht im November 2007 weibliche Neo-Nazis. (2007)

Weitere Informationen und Initiativen zum Thema:

Fachstelle Gender und Rechtsextremismus der Amadeu Antonio Stiftung unter: www.amadeu-antonio-stiftung.de

Das Projekt "Lola für Lulu - Frauen für Demokratie im Landkreis Ludwigslust" unter: www.amadeu-antonio-stiftung.de

Bundeszentrale für Politische Bildung: www.bpb.de/rechtsextremismus

Mut gegen rechte Gewalt: www.mut-gegen-rechte-gewalt.de

Völkische Siedler/innen im ländlichen Raum. Basiswissen und Handlungsstrategien. Herausgeberin: Amadeu Antonio Stiftung

Informationen zur Organisation Rechtsextremer Verbände und Kameradschaften auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung (2017): www.bpb.de

Rechtsextreme Frauen übersehen und unterschätzt. Analysen und Handlungsempfehlungen der Amadeu Antonio Stiftung (2016): www.amadeu-antonio-stiftung.de

Ein Interview mit der promovierten Erziehungswissenschaftlerin und Rechtsextremismusexpertin Heike Radvan über die Folgen von Neonazi-Ideologien in der Erziehung für die Kinder (2012): www.belltower.news

Ein Beitrag der Brandenburgische Landeszentrale für politische Bildung: "Walküren, Mädels, Mütter" - Frauen und Mädchen in der Rechtsextremen Szene, 2005.

Zum Ausstieg:

Ausstieg aus dem Rechtsextremismus: Bundesweites zivilgesellschaftliches Aussteigerprogramm: www.exit-deutschland.de

Aussteigerprogramm des Verfassungsschutzes

Publikationen:

www.gender-und-rechtsextremismus.de

Amadeu Antonio Stiftung (Hrsg.), Rechtsextreme Frauen – übersehen und unterschätzt: Analysen und Handlungsempfehlungen, Berlin 2014.

Röpke, Andrea und Speit, Andreas: "Mädelsache! Frauen in der Neonazi-Szene", Links Verlag, Berlin 2011.

Röpke, Andrea (u.a.): "Retterin der weißen Rasse" – Rechtsextreme Frauen zwischen Straßenkampf und Mutterrolle, Bildungsvereinigung Arbeit und Leben, Hannover 2006.

Bitzan, Renate (Hrsg.): "Braune Schwestern? Feministische Analysen zu Frauen in der extremen Rechten", Unrast-Verlag, Münster 2005.

Brück, Brigitte: "Frauen und Rechtsradikalismus in Europa", VS-Verlag, Wiesbaden 2005.

Köttig, Michaela: "Lebensgeschichten rechtsextrem orientierter Mädchen und junger Frauen – Biographische Verläufe im Kontext der Familien- und Gruppendynamik", Psychosozial-Verlag, Gießen 2004.

Dokumentationen:

Ein Beitrag von ZDF Aspekte über Heidi Benneckenstein und ihr Buch: Ein Deutsches Mädchen – Mein Leben in einer deutschen Neonazi-Familie (2017) www.zdf.de

Tagesschau Inland zu Rechtsextremen Frauen (2014) www.tagesschau.de

Eine Sendung des NDR-Kulturjournal, in der Michel Abdollahi die neue "Nazi-Mode" untersucht (2014) www.ndr.de

Röpke, Andrea/ Recherche Nord: "Neonazistinnen – Frauen in der Rechten Szene", Arbeitsstelle Rechtsextremismus und Gewalt/Bildungsvereinigung Arbeit und Leben, DVD, Laufzeit: 40 Minuten, Farbe, Braunschweig 2006


Literatur

Beitrag vom 03.11.2017

Lisa Goldberg