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Beitrag vom 23.02.2012
Margit Berner, Anette Hoffmann, Britta Lange - Sensible Sammlungen. Aus dem anthropologischen Depot
Annika Hüttmann
Als "sensible Objekte" gelten laut dem Internationalen Museumsrat "menschliche Überreste oder Gegenstände von religiöser Bedeutung". Aber können Objekte überhaupt sensibel sein? Oder bezieht...
... sich dieser Begriff nicht vielmehr auf den Umgang mit ihnen und die Umstände ihrer Beschaffung?
Die drei Autorinnen - eine Humanbiologin, eine Afrikanistin und eine Kultur- und Medienwissenschaftlerin - legen ihren Schwerpunkt auf die Vorgeschichte "sensibler Gegenstände", die heutzutage vor allem in den Tiefen unterschiedlicher Museumsdepots zu finden sind. Indem sie Sammlungsbestände in ihrem spezifischen kulturhistorischen Kontext betrachten, liegt ihr Fokus auf der überaus problematischen, rassistischen und kolonialistischen Vergangenheit der Anthropologie.
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert legten europäische ForscherInnen große Sammlungen an, um so genannte "Naturvölker" oder "aussterbende Völker" zu dokumentieren. Vor allem in afrikanischen und asiatischen Kolonien sammelte (und raubte) mensch Knochen, Haarproben, Präparate und Kulturgegenstände, nahm Messungen vor und machte Fotos, Körperabgüsse, Ton- und Filmaufnahmen.
Die AnthropologInnen und HobbyforscherInnen profitierten dabei von den bereits etablierten Strukturen in den Kolonien, die es ihnen ermöglichten, die Kooperation der Bevölkerung mit Gewalt zu erzwingen.
Aufzeichnungen des selbst ernannten Wissenschaftlers Hans Lichtenecker von 1905 zeigen, wie erniedrigend die Forschungen sein konnten:
"So war sie doch sichtlich entrüstet, als ich von ihr verlangte, das Kopftuch abzunehmen. (...) Die Hülle vor einem Fremden abzunehmen, ist eine größere Schande, als sich etwa nackend photographieren zu lassen."
Die Afrikanistin Anette Hoffman zeigt durch eine Auswertung von Tonaufnahmen, dass sich manche der Opfer dennoch nicht ganz protestlos ergaben. Da viele der ForscherInnen das Gesprochene nicht verstehen konnten, wurde hier mal verschlüsselt, mal ganz offen von Gewalt und Unterdrückung berichtet und die Untersuchten schafften es, kurz aus ihrer Objektposition heraus zu treten.
Die Kriegsgefangenenlager des Ersten Weltkriegs ermöglichten deutschen WissenschaftlerInnen, europäische und nichteuropäische Gefangene auf eine ähnliche Weise wie in den Kolonien zu untersuchen.
Ihren grausamen Tiefpunkt erreichte die Anthropologie jedoch während des Nationalsozialismus, als sie direkt in den Verfolgungs- und Vernichtungsapparat der Nazis eingebunden war. Untersuchungen an jüdischen KZ-Häftlingen und durch Grabschändungen beschaffte Knochen dienten dazu, die Wahnvorstellungen von einer jüdischen "Rasse" zu "beweisen" und zu systematisieren. Außerdem erstellten die ForscherInnen Gutachten, die direkt über das Schicksal einzelner Personen entschieden:
"Diese Gutachten wurden in Auftrag gegeben, wenn ein "Verdacht auf jüdische Abstammung" vorlag, beziehungsweise eine Person im Sinne der Nürnberger Gesetze als "Jude" oder "jüdischer Mischling" galt"
Die Beweise für diese Abgründe der Anthropologie lagern heute vornehmlich in unterschiedlichen Museumsdepots. Die Autorinnen von "Sensible Sammlungen" holten diese hervor, um sie gründlich zu erforschen. Bislang weitgehend unbeachtete Gegenstände, wie zum Beispiel die Tonaufnahmen, liefern überraschende Ergebnisse, da sie einen Ansatz zu einer Gegendarstellung zur eurozentristischen Sichtweise bieten. Die Kontextualisierung der gesammelten Daten und Objekte lässt dabei deutlich werden, dass es sich hierbei nicht um Verirrungen einzelner ForscherInnen handelte, sondern den gängigen Ideologien, Vorstellungen und Interessen entsprach. Dass die "sensiblen Sammlungen" für die Öffentlichkeit heute weitgehend unsichtbar sind, bedeutet nicht, dass mensch sich nicht mit ihnen beschäftigen muss. Allein die Tatsache, dass es im Wiener Naturhistorischen Museum bis 1996 einen "Rassensaal" gab, zeigt, wie spät sich hier ein Unrechtbewusstsein eingestellt hat und, dass institutionalisierter Rassismus durchaus auch heute noch eine Rolle spielt.
Zu den Autorinnen:
Margit Berner, geboren 1961, ist Kuratorin der Abgusssammlung an der Anthropologischen Abteilung des Naturhistorischen Museums in Wien. Ihre Forschungsschwerpunkte und Publikationen liegen im Bereich Physische Anthropologie und Geschichte der Anthropologie.
Anette Hoffmann, geboren 1965, hat Afrikanistik studiert und an der Amsterdam School for Cultural Analysis promoviert. Sie arbeitet an der University of Fort Hare in Südafrika.
Britta Lange, geboren 1973, hat Kunstgeschichte, Kultur- und Medienwissenschaften studiert und über EthnograficahändlerInnen aus Hamburg promoviert. Sie arbeitet am Institut für Sozialanthropologie der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien.
AVIVA-Tipp: "Sensible Sammlungen" beleuchtet die Umstände, unter denen Gegenstände, die heute als "sensibel" bezeichnet werden, im 19. und 20. Jahrhundert beschafft wurden. Dies ermöglicht einen umfassenden, interessanten und sehr informativen Blick auf die problematische Geschichte der Anthropologie und zeigt, wie mensch produktiv mit dieser umgehen kann, ohne dabei alte Rassismen zu reproduzieren. Das Wissen über Verbrechen im Dienste der (angeblichen) Wissenschaft ermöglicht außerdem, kritisch zu hinterfragen, wie noch heutzutage mit dem vermeintlich "Fremden" umgegangen wird.
Margit Berner, Anette Hoffmann, Britta Lange
Sensible Sammlungen
Aus den anthropologischen Depot
Verlag Philo Fine Arts, erschienen im August 2011
Gebunden, 278 Seiten
978-3-86572-677-3
14 Euro
www.philo-fine-arts.de
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