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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 29.08.2017


Lucia Leidenfrost - Mir ist die Zunge so schwer. Erzählungen
Hannah Hanemann

Das Debut der österreichischen Schriftstellerin besticht durch einfache Sprache und schmerzhafte Einblicke in die Leben und Erinnerungen ihrer Großelterngeneration, der die Autorin mit ihren Geschichten eine Stimme verleiht.




Dass ältere Autor*innen sich in jüngere Protagonist*innen hinein versetzen und deren Geschichten erzählen, ist in der Literatur keine Seltenheit. Lucia Leidenfrost hat den Gegenentwurf gewagt: ihr Buch ist das Einfühlen einer jungen Frau in die Erinnerungen, Schmerzen und Hoffnungen der österreichischen Kriegsgeneration.
In "Mir ist die Zunge so schwer" lässt sie in achtzehn Kurzgeschichten fiktive Charaktere von ihrem Leben zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs und danach erzählen. Manche Geschichten handeln von Schuld und Gewalt, andere von den kleineren, alltäglichen Momenten im Leben. Ihnen allen ist eine minimalistische, trockene Sprache gemein, sowie eine melancholische und nachdenkliche Grundstimmung. Dabei bleibt Lucia Leidenfrost nah bei ihren Protagonist*innen und lässt diese in ihrer eigenen Sprache berichten. Den Erzählungen wird kein stilistischer Filter aufgedrückt, sie klingen, als hörte Frau persönlich dabei zu, wie sich alte Menschen ihrer Jugend erinnerten, ihrer Fehler und Verluste, ihrer Freuden und Schmerzen.

Fiktive Berichte von Tätern und Opfern

Einzeln betrachtet sind Lucia Leidenfrosts Geschichten eindringlich und manchmal traurig, in der Fülle tut die Lektüre weh. Das soll sie aber wohl auch. "Mir ist die Zunge so schwer" ist kein Buch für den betulichen Feierabend, weder Sprache noch Inhalt geben viel Anlass zum Träumen. Die Erzählenden sind Menschen, die Tod und Zerstörung ebenso erlebt haben wie Liebe und Neubeginn. Sie berichten von ihren Erfahrungen mit einer fast beklemmenden Distanz und Emotionslosigkeit, als wäre das, wovon sie berichten längst überwunden. Doch gerade in diesem sprachlichen Minimalismus spiegeln sich ihre Leiden und Grausamkeiten umso erschreckender wider.

Dabei ist die Bandbreite des Erzählten recht groß: Von einem alten Paar, das Rhabarber einkocht über einen Mann, der von einer tödlich endenden Hetzjagd auf einen Kriegsverweigerer erzählt, hin zu der zufälligen Bekanntschaft zweier Kriegsdeserteure und einer Frau, deren auf Grund zu zahlreicher Geburten die Gebärmutter entfernt werden musste - die vielen Einzelschicksale fügen sich zum Portrait einer Generation, die gleichermaßen Täter wie Opfer hervorgebracht hat.
Denn auch Täter lässt die Autorin zu Wort kommen, Täter, die auch Jahre nach den Gräueltaten des Nationalsozialismus für ihr Mitverschulden kaum Reue zeigen, die scheinbar unberührt von ihren Taten berichten, als stammten sie aus einem anderen Leben, das für das Heutige keine Rolle mehr spielt.

Einige Geschichten stechen sprachlich aus der Sammlung hervor und schaffen es, eine sehnsuchtsvolle und poetische Atmosphäre zu kreieren, so etwa die titelgebende Erzählung "Mir ist die Zunge so schwer" über die Einsamkeit, Heimatlosigkeit und Sehnsucht ihres Protagonisten. Leider gelingt es der Autorin trotz der ernsten Thematik jedoch nicht durchgängig, die Leserin mit ihren Geschichten in ihren Bann zu schlagen. Manches wirkt zu konstruiert, dann wieder zu belanglos oder sentimental.
Als Erinnerung an eine Generation, die in Vergessenheit zu geraten droht, ist das Werk dennoch lesenswert, auch wenn es der Leserin auf Grund der sehr kühlen und emotionslosen Schilderungen beizeiten schwer fällt, eine wirkliche Beziehung zu den Protagonist*innen aufzubauen. In der Alltäglichkeit der Sprache und des Geschilderten scheint kein Platz für große Emotionen, Gefühlsausbrüche oder Rührungen zu sein. Denn den Erzählenden sind Zunge und Herz schwer.

AVIVA-Tipp: Lucia Leidenfrosts "Mir ist die Zunge so schwer" ist keine leichte Kost. Ihre Figuren sind Menschen, die viel erlebt und viel zu berichten haben, deren Geschichten traurig und bedrückend sind, bewegen und nachdenklich stimmen. Dabei gelingt es der Autorin, sie in ihrer eigenen Sprache zu portraitieren und sensible Themen glaubhaft und ohne Pathos anzugehen.

Zur Autorin: Lucia Leidenfrost wurde 1990 in Frankenmarkt (Oberösterreich) geboren. Sie studierte Germanistik, Skandinavistik und Germanistische Linguistik an der Eberhard-Karls-Universität in Tübingen. Seit 2014 lebt sie in Mannheim und arbeitet am Institut für Deutsche Sprache. Ihre Erzählungen sind in österreichischen und deutschen Literaturzeitschriften erschienen. Sie erhielt u.a. das Start-Stipendium des BMUKK für Literatur sowie den Anerkennungspreis U19 beim Marianne-von-Willemer-Preis. "Mir ist die Zunge so schwer" ist ihr erstes Buch.
Mehr Infos: www.lucialeidenfrost.at

Lucia Leidenfrost
Mir ist die Zunge so schwer

Kremayr & Scheriau, erschienen Februar 2016
Hardcover mit Schutzumschlag
192 Seiten, Format 12x20cm
ISBN: 978-3-218-01069-6
19,90 €
www.kremayr-scheriau.at

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Beitrag vom 29.08.2017

AVIVA-Redaktion