Ingeborg Bachmann - Male Oscuro - Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Herausgegeben von Isolde Schiffermüller und Gabrielle Pelloni - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 21.06.2017


Ingeborg Bachmann - Male Oscuro - Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit. Herausgegeben von Isolde Schiffermüller und Gabrielle Pelloni
Silvy Pommerenke

Erstmals wurden Traumnotate, Briefe, Brief- und Redeentwürfe aus dem gesperrten Teil des Nachlasses Ingeborg Bachmanns ediert und stellen damit den Beginn der Salzburger Bachmann Edition dar, die insgesamt zwanzig Bände haben wird.




Bachmann hat den Ausdruck Male Oscuro (wörtlich übersetzt "das dunkle Übel") von dem italienischen Autor Giuseppe Berto übernommen, der 1964 einen gleichnamigen Roman veröffentlichte. Genau wie ihr italienischer Kollege widmet sie sich in dieser Schrift den bis heute in der Gesellschaft mit vielen Stigmata belegten psychischen Erkrankungen. Bachmann, selbst davon betroffen (sie bezeichnet den Zustand euphemistisch als "Misere"), wagt hiermit den Schritt an die Öffentlichkeit - in den 60er Jahren fast ein Ding der Unmöglichkeit. Verklausuliert verfasst als "Bericht an eine Ärzteschaft" - der eine Brücke zwischen autobiographischem und literarischem Schreiben darstellt -, hatte Bachmann etwas anderes im Sinn (deswegen auch der von den Herausgeberinnen gewählte Untertitel "Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit"). Sie wollte die Scham überwinden, die die meisten Patientinnen davon abhält, darüber zu reden. Sie wollte den Leserinnen ihre persönlichen Erfahrungen "zumuten".

Offiziell erhält sie die Diagnose "vegetative Dystonie" aber auch "endogene Depression". Vermutlich aber eher Verlegenheitsdiagnosen der Ärzte, denn die Symptome wie Angststörungen, Panikattacken, extreme Kopfschmerzen sowie Schwindel- und Ohnmachtsanfälle, unter denen Bachmann litt und die sie zu häufigen Klinikaufenthalten zwangen, sind auch für die Literatin kaum in Worte zu fassen. Sie wagt sich nach Aufforderung ihres Psychotherapeuten trotzdem daran, und der Text vom 7. Januar 1965 trägt den Titel "Versuch, es herauszubekommen". Aber die Lyrikerin, deren Heimat die Sprache ist, scheitert dabei und es bleibt bei einem unbeholfenen Versuch. Uwe Johnson, ein sehr guter Freund von ihr, gelingt es scheinbar besser. Vielleicht, weil er es mit dem objektiven Auge des Außenstehenden beurteilt: "Nach ihren sehr ungefähren Andeutungen kann man ihre Krankheit zurückführen auf psychische Belastung, die bei einer Übermässigkeit die Funktion von Kopfnerven stört, was wiederum den Kreislauf verhagelt. Sie ist öfters nicht bei Bewusstsein, muss bei Krämpfen im Bett festgehalten werden, wird auch unablässig unter Betäubungsmitteln gehalten."

Die Textauswahl der Herausgeberinnen deuten darauf hin, dass die Trennung von Max Frisch als Auslöser (oder zumindest als Katalysator) für die psychische Erkrankung von Bachmann angesehen werden könnte, zudem wimmelt es in den Traumnotaten (geschrieben zwischen Februar 1963 und Juni 1966) von Anspielungen und deutlichen Hinweisen darauf, wie sehr sie unter der Trennung gelitten hat.

Die Herausgeberinnen Isolde Schiffermüller und Gabriella Pelloni haben sich dafür entschieden, auch äußerst persönliche Notizen von Bachmann hinzuzufügen, wie Traumnotate, Briefe oder Rede-Entwürfe. Mit der Begründung, dass Bachmann unter "einer falsch verstandenen Diskretion fast zugrunde gegangen" wäre. Somit erwartet die Leserin ein sehr intimes Portrait von der österreichischen Autorin, das eine heutige Volkskrankheit thematisiert und sicher auch zum besseren Verständnis des Bachmann´schen Ouevres beiträgt. Vor allem ,was deren "Todesarten-Projekt" betrifft, zudem wird dadurch auch ihre Alkohol- und Medikamentenabhängigkeit nachvollziehbarer.

Als textkritische Ausgabe versteht es sich von selbst, dass sich im Anhang Stellenkommentare, Quellen- und Literaturverzeichnisse befinden und einige der Texte sind auch als Faksimiles abgedruckt. Liebevoll eingebunden in Leinen und mit einem Lesebändchen versehen, spricht es nicht nur die literarisch begeisterte Leserin an, sondern auch die bibliophile. Und allein das Vorwort verdient schon gebührlichen Respekt. Die Diskretion, die die Herausgeberinnen einerseits wahren wollen und gleichzeitig den Versuch, das Werk (und den Menschen Bachmann) für ein breites Publikum verständlicher zu machen, ist ihnen mehr als nur gelungen.

AVVA-Tipp: Die Akribie, mit der sich die beiden Herausgeberinnen den Texten und deren wissenschaftlichen Auswertungen widmen, erinnert beinahe an einen gerichtsmedizinischen Befund. Ähnlich spannend liest sich denn auch "Male oscuro" und die Vorfreude auf die nächsten Bände der Salzburger Bachmann Edition ist auf jeden Fall geweckt!

Zur Autorin: Ingeborg Bachmann wurde am 25. Juni 1926 als erstes von drei Kindern des Volksschullehrers Matthias Bachmann (1895-1973) und seiner Frau Olga (geb. Haas, 1901-1998) in Klagenfurt (Österreich) geboren. Ihre Mutter stammt aus dem an "Böhmen" und Ungarn grenzenden Niederösterreich, ihr Vater aus Obervellach bei Hermagor im Kärntner Gailtal, wo die Familie in Ingeborg Bachmanns Kindheit oft Ferien verbrachte. Dieser Kärntner Grenzraum im Dreiländereck Österreich-Italien-Slowenien repräsentiert für die Autorin später "ein Stück wenig realisiertes Österreich (...), eine Welt, in der viele Sprachen gesprochen werden und viele Grenzen verlaufen". Sie begann schon als Schülerin zu schreiben. Sie studierte Philosophie in Innsbruck, Graz und schließlich in Wien, wo sie Bekanntschaft u. a. mit Hans Weigel machte. 1949 verfasste Bachmann ihre Dissertation über Martin Heideggers Existentialphilosophie. Anschließend trat sie eine Stelle beim amerikanischen Sender Rot-Weiß-Rot an, die zum Ausgangspunkt ihrer Rundfunkarbeit wurde. Die Freundschaft mit dem Dichter Paul Celan hatte einen großen Einfluss auf ihr Denken. Ingeborg Bachmann gilt als eine der bedeutendsten deutschsprachigen Lyrikerinnen und Prosaschriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Ingeborg Bachmann starb am 17. Oktober 1973 in Rom unter bis heute ungeklärten Umständen. (Quelle: Universitätsinformationen)

Zur Herausgeberin: Isolde Schiffermüller, geboren 1955 in Innsbruck, promovierte 1980 an der Leopold-Franzens-Universität in Innsbruck und arbeitet seit 2009 als ordinierte Germanistik-Professorin an der Universität in Verona. (Quelle: Universitätsinformationen)

Zur Herausgeberin: Gabriella Pelloni, promovierte 2005 an der Universität Padova und arbeitet seit 2015 als Assistenz-Professorin im Fachbereich Germanistik an der Universität in Verona (Quelle: Verlagssinformationen)

Ingeborg Bachmann
Male Oscuro
Aufzeichnungen aus der Zeit der Krankheit
(Hrg. Von Isolde Schiffermüller und Gabrielle Pelloni)

Suhrkamp Verlag, erschienen Februar 2017
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 259 Seiten
ISBN: 978-3-518-42602-9
Euro 34,00
www.suhrkamp.de


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Beitrag vom 21.06.2017

Silvy Pommerenke