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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 16.05.2017


Vera Dünkel - Röntgenblick und Schattenbild. Genese einer neuen Art von Bildern
Lisa Baurmann

Die Kunsthistorikerin und Kulturwissenschaftlerin nimmt uns in ihrem Werk, das ursprünglich als Dissertation am Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik der Humboldt-Universität entstanden ist, mit auf eine Reise ins europäische fin de siècle, in dessen...




... Sehgewohnheiten und wissenschaftlichen Diskurse, die sich auch in den ersten entstehenden Röntgenaufnahmen abzeichnen. Das Kernstück des Buches bilden bisher unveröffentlichte, teilweise erstaunliche und wunderschöne Abbildungen dieser frühen Arbeiten.

Mit "Zwei Seefische: Acanthurus nigros und Zanclus cornutus" ist die Aufnahme aus dem Jahr 1896 betitelt, die J.M. Eder und E. Valenta im Band "Versuche über Photographie mittelst der Röntgen´schen Strahlen" veröffentlichten. Sie entstand noch im selben Jahr der Entdeckung der unsichtbaren elektromagnetischen Wellen durch Wilhelm Conrad Röntgen und ist beispielhaft für deren schnelle Verbreitung und Popularisierung.

Ebenso beispielhaft steht diese Aufnahme für die epistemische und bildliche Kontinuität mit der Fotografie, in die Zeitgenoss_innen das Röntgenverfahren stellten, wie Eder und Valenta auch mit dem Titel des Bandes deutlich machten. Das legt nahe, dass frühe Röntgenbilder nicht nur auf ihre technischen Voraussetzungen hin untersucht, sondern auch mit Blick auf ihre ästhetischen Bedingungen interpretiert und kontextualisiert werden können. Letzteres Projekt unternimmt Vera Dünkel in ihrem Buch "Röntgenblick und Schattenbild". Die "Zwei Seefische" sind bestens geeignet, einige der Verortungen aufzuzeigen, die Dünkel dabei vornimmt.

Zwei Seefische: Acanthurus nigros und Zanclus cornutus
© AVIVA-Berlin. "Zwei Seefische: Acanthurus nigros und Zanclus cornutus", Röntgenaufnahme erschienen 1896 in J.M. Eders und E. Valentas "Versuche über Photographie mittelst der Röntgen´schen Strahlen", hier abgebildet in Vera Dünkels "Röntgenblick und Schattenbild", S. 232.

Schattenbilder

Zunächst wird die zeitgenössische Betrachterin vielleicht der Umstand wundern, dass es sich bei den zwei Seefischen nicht, wie von heutigen medizinischen bildgebenden Verfahren bekannt, um in Weiß hervortretende Formen auf schwarzem Grund handelt. In dieser Frühphase des Experimentierens mit Röntgenstrahlen wurden oft noch Positive von der mit den Strahlen belichteten Fotoplatte abgezogen, so auch hier. Die Ergebnisse wirken wie mysteriöse, im Bild schwebende Schatten.

In Schwarz auf weißem Grund zeichnen sich also zwei Fische ab. Ihre Augen leuchten hell aus den dunklen Körpern hervor. Die Skelette, Zähne, Flossen und Stacheln bilden filigrane, erstaunlich detailliert abgebildete Formen innerhalb der halbtransparenten, sich überlagernden Haut- und Muskelschichten.

Unsichtbares sichtbar machen

Diese Detailtreue gehört zu den Zielen, nach denen die Wissenschaftler_innen und Unternehmer_innen, die mit den neuen Strahlen experimentierten, allen voran strebten. Sie lässt sich einordnen in den Versuch, bisher Unsichtbares, wie die Knochen eines intakten Lebewesens, sichtbar zu machen. Die Enthüllungen konnten die Betrachter_innen überraschen und begeistern, aber auch gruseln: Von allen Motiven der frühen Röntgenaufnahmen, darunter auch Alltagsgegenstände und Gerätschaften, erfreuten sich Durchleuchtungen von Tier- oder Menschenkörpern, die das Skelett sichtbar machten, schnell der größten Popularität. Besonders beliebt waren Live-Durchleuchtungen von Armen und Händen des begeisterten Publikums auf Elektrizitäts- und Röntgenausstellungen, die mittels fluoreszierender Schirme zum Vorschein kamen. Die Autorin arbeitet die darin begründete Parallele zu Memento-Mori- und Vanitas-Kunstwerken heraus, die die Präsenz des Todes in Erinnerung rufen sollten.

Ästhetischer Anspruch

Vor allem aber lässt sich der Aufnahme der Anspruch ansehen, Bilder nicht nur mit Erkenntnisinteresse, sondern von visuell ansprechender Qualität zu schaffen. Der gegenläufigen Anordnung der beiden Fische im Bildzentrum lässt sich die bewusste Entscheidung für eine bestimmte Bildkomposition ablesen. Das Röntgenbild kann damit, wie viele andere der gezeigten Aufnahmen, nicht nur als technisch, sondern auch als ästhetisch äußerst gelungen betrachtet werden.

Ästhetisch ansprechend gestaltet ist der gesamte Band, nicht nur die in Originalgröße enthaltenen, von der Autorin ausgewählten Röntgenaufnahmen. Durch den transparenten Einband scheint, in genialer Anlehnung an das Untersuchungsobjekt, die Abbildung einer frühen Röntgenaufnahme der menschlichen Hand. Im Inhaltsverzeichnis sind die Seitenzahlen mit den Kapitelüberschriften durch wellenförmige Linien verbunden, die an Strahlung erinnern. Für die Gestaltung zeichnet die Berliner Agentur Troppo Design verantwortlich.

Durchleuchtende Beobachtungen, transparente Sprache

Selbstredend überzeugt Dünkels Werk, dem jahrelange wissenschaftliche Forschungen zugrunde liegen, auch inhaltlich. Mit zahlreichen Gegenüberstellungen verortet es die frühen Röntgenbilder nicht nur in Sehgewohnheiten des ausgehenden 19. Jahrhunderts und in zeitgenössische Diskurse, sondern auch in Kunsttechniken des frühen 20. Jahrhunderts. Besonders spannend sind die Parallelen zur späteren Fotogrammkunst, unter anderem zu Werken László Moholy-Nagys von 1927, die die Autorin aufzeigt.

Vera Dünkel gelingt es, ihre tiefgehenden Erörterungen zu der anspruchsvollen Thematik mit zugänglicher Sprache zu vermitteln, indem sie mit Fachjargon spart und durchweg eine klare Ausdrucksweise wählt.
Der Einstieg in den Text hätte jedoch, für Einsteiger_innen wie für Expert_innen, einfacher gestaltet werden können. Dünkel geht sehr sparsam mit Wegweisern um, die dem Text Struktur geben – darunter Ausblicke auf noch folgende Textabschnitte oder Zusammenfassungen einzelner Kapitel – sodass das Erschließen von Kernpunkten und Argumenten erschwert wird.

Kritische Leerstellen

Das vierte Kapitel beschäftigt sich mit der Arbeit Hans Virchows an Röntgenbildern von abgebundenen Füßen aus dem Jahr 1905. Diese werden euphemistisch auch "Lotosfüße" genannt, sie bezeichneten eine bis ins 20. Jahrhundert in China angewandte Praxis, Füße von Mädchen und Frauen schmerzhaft einzubandagieren und teilweise auch gewaltsam zu brechen, damit sie eine möglichst kleine und spitze Form erhielten. Dabei übernimmt Dünkel einerseits unkritisch die Quellensprache ("Chinesinnen-Füße"), andererseits lässt sie Fragen unbeantwortet, die die Betrachtung der Bilder im historischen Kontext nahe legen würde: Inwiefern ist der Röntgenblick hier auch Ausdruck eines kolonialen Blicks, der Menschen und Kulturen außerhalb Europas verallgemeinernde und abwertende Eigenschaften zuschreibt?

Thematisch verbunden mit dieser Frage ist die Normierung von Körperbildern, die Dünkel als Mechanismus eines Teils der frühen Röntgenbilder aufzeigt. Dabei bleibt offen, wie sich das Verhältnis von dieser Normierung zu Eugenik und Rassenideologie im 19. und 20. Jahrhundert gestaltet. Auch wenn diese Leerstellen im Rahmen der Dissertation vielleicht nicht zu füllen waren, hätte Vera Dünkel immerhin auf sie aufmerksam machen können.

AVIVA-Tipp: Trotz einzelner offener Fragen ist der schriftliche Teil der Abhandlung von großem wissenschafts- und bildhistorischen Wert. Die über 70 Abbildungen von Röntgenaufnahmen in Originalgröße und das bibliophile Design machen das Werk darüber hinaus zu einem wahren Schmuckstück. Damit spricht es nicht nur wissenschaftlich zum Thema Arbeitende an, sondern auch geschichtlich oder künstlerisch Interessierte.

Zur Autorin: Vera Dünkel studierte Bildende Kunst und Ästhetik in Paris sowie Kulturwissenschaften und Kunstgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin und arbeitete bis 2013 als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Projekt "Das technische Bild", eine Kooperation des Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik und des Instituts für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität, wo sie bis heute assoziiertes Mitglied ist. 2014 promovierte sie beim Kunsthistoriker Horst Bredekamp mit "Röntgenblick und Schattenbild. Genese und Ästhetik einer neuen Art von Bildern". 2008 war sie Mitherausgeberin des Sammelbandes "Das Technische Bild. Kompendium zu einer Stilgeschichte wissenschaftlicher Bilder". 2015 erschien dessen englischsprachige Ausgabe "The Technical Image. A History of Styles in Scientific Imagery". 2010 gab Vera Dünkel den Band "Kontaktbilder" in der Reihe "Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik" heraus. In Fotogeschichte, Heft 138, veröffentlichte sie 2015 den Aufsatz "Zwischen Memento mori und Spektakel. Frühe Aufführungen von Röntgenbildern des Körpers im kulturgeschichtlichen Kontext". Vera Dünkel lebt und arbeitet in Berlin.

Vera Dünkel
Röntgenblick und Schattenbild. Genese und Ästhetik einer neuen Art von Bildern

Edition Imorde, erschienen: April 2016
Offene Fadenbindung mit transparentem Kunststoffeinband, 296 Seiten, 223 Textabbildungen und 72 Farbtafeln
ISBN: ISBN 978-3-942810-35-7
Preis: 79 Euro
www.reimer-mann-verlag.de


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Beitrag vom 16.05.2017

AVIVA-Redaktion