Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Herausgegeben von Oliver von Wrochem unter Mitarbeit von Christine Eckel - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 07.11.2016


Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie. Herausgegeben von Oliver von Wrochem unter Mitarbeit von Christine Eckel
Nea Weissberg

Der informative Sammelband, ein fünf Jahre währendes Langzeitprojekt, beinhaltet 34 Artikel, die sich mit nationalsozialistischer Täterschaft und deren nachträglichen psychosozialen Wirksamkeiten auf die Kriegskindergeneration, die Nachkriegsgeneration und ...




... deren Kinder (Enkelgeneration) beschäftigt. Der Herausgeber vertritt die Meinung, dass die erste historisch wissenschaftliche Auseinandersetzung mit NS-Täterschaft in Deutschland erst Mitte 1990 begonnen hat.

NS-Vergangenheit im Familiengedächtnis

Psychische Auswirkungen des Nazi-Erbes auf ihre Kinder lassen sich bereits im 1982 in den USA erschienenen Standardwerk "Generation of the Holocaust" (dt. Titel: "Kinder der Opfer / Kinder der Täter / Psychoanalyse und Holocaust) von Bergmann, Jucovy und Kestenberg (HG.) nachlesen.

Die ersten drei Kapitel des Sammelbandes "Nationalsozialistische Täterschaften / Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie" präsentieren internationale Forschungsergebnisse. In zwei weiteren Themenblöcken enthüllen Kinder und Enkel von NS-Täterinnen und NS-Tätern ihre Sicht auf die innerfamiliären, persönlichen und kollektiven Auswirkungen. Denn Zeitgeschichte setzt sich fort, nicht nur in historisch nachgewiesenem Material, sondern in Bildern und Klischees, die den Nachkommen verbal oder nonverbal übermittelt wurden.

Der Fokus der Erinnerung wird in den 34 Beiträgen innerfamiliär, wissenschaftlich und gesellschaftspolitisch reflektiert. Analysiert wird, ob es eine beidseitige Verkettung in der Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte im erinnerungskulturellen Kontext mit einem öffentlich politischen Umgang an nationalsozialistische Gewaltverbrechen gibt.

Erinnern heißt zurückgehen in die eigene Geschichte, in die Familiengeschichte und in die politische Zeitgeschichte. Die Stellung eines jeden Kindes im Familienverbund und die jeweilige Identifikation mit einem bestimmten Eltern- oder Großelternteil tragen zu Ausmaß und Intensität der Auswirkungen der familiär NS-belasteten Vergangenheit, zur Auseinandersetzung oder zum Ignorieren durch Nachgeborene bei. Die nachkriegsdeutsche Generation ist unweigerlich – bejaht oder zurückgewiesen - mit dem Erbe historisch konfrontiert.

Transgenerationelle, unbewusste Familien-Übertragungen können hierbei nicht außer Acht gelassen werden. Die allmächtige "Rassen"-Ideologie, die hartherzige, angemaßte, Deutungshoheit über sogenanntes "lebensunwertes Leben" und die sogenannte "arische" Vision des "Tausendjährigen Reiches" wurden offiziell 1945 von den Alliierten gestoppt und besiegt. Aber wie kann der Einfluss jener NS-Vision und ihre Umsetzung ohne irgendwelche unbewussten Folgen für die Seele, den Geist und das Verhalten der Nachkommen der Täterinnen /Täter bleiben?

Der Herausgeber des Buches, Oliver von Wrochem, beschreibt in seinem Beitrag "Bildungsarbeit an Gedenkstätten zu Täterschaft und mit Nachkommen von Täterinnen und Tätern" sehr eindrücklich und gut nachvollziehbar das Dilemma, sich dem Loyalitätskonflikt zu stellen, "etwas preiszugeben, das so bisher nicht öffentlich gesagt wurde, und dem Wunsch, das familiäre Schweigen zu durchbrechen." (S. 145). " ... kein Geschichtsbuch, kein Film, keine Veranstaltung und keine Ausstellung werden zur Aufklärung führen, wenn wir nicht den persönlichen Bezug erkennen." (S. 147).

Das familiäre Verleugnen und Verschweigen an NS-Tatbeteiligung, an Gewaltverbrechen, an Kollaboration oder an unmäßig viel materiellem Profit durch die sogenannte "Arisierung" (Bemächtigung von Alltagsgegenständen, Möbeln, Bildern, Schmuck, Kleidung, Spielzeug, Wohnungen, Häusern, Geschäften, Fabriken etc.) und durch Raubmord kann erst überwunden werden, "wenn sich Menschen zu den Verbrechen ihrer Vorfahren emotional in Beziehung setzen..." (S. 147).

Ein wichtiger Beitrag im Buch "Bildungsarbeit zu Täterschaft am Beispiel der Beschäftigung mit den nationalsozialistischen "Euthanasie"-Verbrechen" von Uta George, hinterfragt die "späte Aufnahme der Verbrechen in das kollektive Gedächtnis der deutschen Gesellschaft". (S.163). "Die Verantwortung für die Verbrechen werden von Tatbeteiligten fast durchgehend auf andere, insbesondere Vorgesetzte oder Größen des NS-Regimes übertragen." (S.167).

Die im Buch inliegende Film-DVD von Jürgen Kinter und Oliver von Wrochem wird mit "Nationalsozialistischer Täterschaft in der eigenen Familie. Erinnerungsberichte der Zweiten und Dritten Generation" betitelt.
Hier ist eine Begriffsklärung notwendig: Bei jüdischen Familien wird zwischen der Zweiten Generation (Second Generation) und den Child Survivors unterschieden:
Die direkten Nachkommen von Holocaust-Überlebenden und von Child Survivors werden seit Mitte der 1960ziger Jahre als Second Generation benannt. Der Begriff Child Survivors bildete sich Ende der 1970ziger Jahre heraus. Damit sind jüdische Kinder gemeint, die vor oder während der Shoah geboren wurden und vom Tage ihrer Geburt an durch die NS-Ideologie und das NS-Vernichtungsprogramm existentiell bedroht waren. Sie lebten in unaufhörlicher Lebensgefahr, gefangen, gequält, erschossen oder vergast zu werden.
Während des II. Weltkrieges sind in Europa 1,5 Millionen jüdische Kinder ums Leben gekommen, mehr als eine Million dieser Kinder wurde vorsätzlich und systematisch vernichtet.
"Mit dem Tod so vieler Kinder wurden auch zukünftige Generationen vernichtet und der natürliche Fortgang von Generation zu Generation auf gewaltsame Weise unterbrochen." (s. Gilbert, Martin: Endlösung. Die Vertreibung und Vernichtung der Juden. Ein Atlas. Reinbek bei Hamburg 1995. S. 11.)
Durch den gewaltsam ausgelösten Riss in der natürlichen Generationenfolge erscheint diese neue Generationenzählung in jüdischen Familien folgerichtig, aber eben nicht in den Familien der NS-Täter und Kollaborateuren.

In dem Beitrag "Weibliche und männliche Täterschaft im Familiengedächtnis / Überlegungen zu Geschlecht als Kategorien in der Auseinandersetzung mit NS-Verbrechen" führen Alyn Bessmann und Jeanette Toussaint u. a. eine Untersuchung von Konstanze Hanitzsch an:
"... über den Umgang der zweiten Generation mit der Täterschaft von Vätern, in denen auch die Wahrnehmung der Mütter thematisiert und zugleich nach den Auswirkungen auf das Selbstbild der Kinder gefragt wird." (S. 234-235).

Hierzu merke ich an, dass Beate Niemann, Niklas Frank sowie Malte Ludin zum einen eben nicht der Zweiten Generation angehören, stattdessen Kinder waren, die im "Dritten Reich" geboren und sozialisiert worden sind und zum anderen haben z. B. Niemann und Frank gegen diese Auslegungen, tendenziösen Deutungen und Verallgemeinerungen von Hanitzsch Einspruch erhoben. Niemanns Kritik z. B. beruft sich darauf, dass die Autorin Hanitzsch wissentlich falsche Behauptungen aufstellte, ungeprüfte Vermutungen als Fakten deklariert hat. Tatsache ist, dass Beate Niemann in dem Buch "Ich lasse das Vergessen nicht zu" erstmalig über ihre Mutter schreibt und alle weibliche Familienmitglieder der Nachfolgegeneration sich auch zum NS-Familienerbe äußern. (Niemann, Beate: "Ich lasse das Vergessen nicht zu" erscheint im Januar 2017 im Lichtig Verlag, HG. Nea Weissberg)

AVIVA-Tipp: In einem Teil der heutigen deutschen Gesellschaft, in der Spaltung, Verweigerung und aggressiv verbale Entgleisung statt Dialog und Auseinandersetzung offenkundig werden, könnte dieses vorliegende Buch hilfreich sein und Klarheit für die Zögerlichen, Schwankenden, Ambivalenten und dadurch Abwehrenden bieten, die bislang noch keinen Weg gefunden haben, das historische Erbe anzunehmen.

Zum Autor: Dr. Oliver von Wrochem, geboren 1968 in San Diego, ist Leiter am Studienzentrum der KZ-Gedenkstätte Neuengamme sowie Herausgeber vieler Schriften und Monoraphien.
Mehr Informationen im Forscherprofil von Oliver von Wrochem bei Clio-online www.clio-online.de


Oliver von Wrochem (Hrsg.)
Nationalsozialistische Täterschaften. Nachwirkungen in Gesellschaft und Familie

Reihe Neuengammer Kolloquien, Band 6
Unter Mitarbeit von Christine Eckel
ISBN 978-3-86331-277-0
535 Seiten
Euro 24.00
Metropol Verlag, erschienen April 2016
metropol-verlag.de


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Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen. Beidseits von Auschwitz Identitäten in Deutschland nach 1945. Dreißig Beiträge und Schlussgedanken von Halina Birenbaum
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Die Szenenbildnerin, Autorin und FAZ-Kolumnistin Naomi Schenck erbt von ihrem Großvater, einem Pionier der Fotochemie, den Auftrag, seine Biografie zu schreiben. Schon bald findet sie heraus, dass Günther Otto Schenck bereits 1933 der SA beigetreten ist und 1937 NSDAP-Mitglied wurde. (2016)

Ilany Kogan - Im Prisma der Kreativität. Zwei psychologische Fallstudien
In ihrem neuen Buch demonstriert die israelische Psychoanalytikerin, klinische Psychologin und Supervisorin in einem gut referierten wissenschaftlichen und einem anschaulich dargestellten fallanalytischen Anamnese-Teil den heilenden Einsatz kreativer Symbol- und Phantasiearbeit im Verlauf einer Therapie mit der Second Generation – Klientel. (2016)

Kathrin Kompisch - Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus
Die NS-Täterinnen waren jahrzehntelang aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Kathrin Kompisch untersucht, in welchen Bereichen Frauen an den Verbrechen der NS-Diktatur beteiligt waren. Die Geschichtsforschung zur NS-Diktatur war lange Zeit ausschließlich auf die männlichen Täter und Mitläufer fokussiert. (2009)



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Beitrag vom 07.11.2016

Nea Weissberg