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Beitrag vom 08.09.2016
Selma Lagerlöf - Die Erinnerungen. Das Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf
Doris Hermanns
Nach der im Frühjahr vorigen Jahres erschienenen Biografie von Selma Lagerlöf sind nun drei Bände ihrer eigenen Erinnerungen an Kindheit und Jugend gebündelt erschienen.
Selma Lagerlöf war 1907 durch ihre großen Erfolge finanziell in der Lage, Mårbacka zurückzukaufen, das Gut in einer entlegenen Ecke Värmlands in Mittelschweden, auf dem sie aufgewachsen und das während ihrer ersten und letzten Jahre ihr Lebensmittelpunkt war. Es hatte 1890 aufgrund von Krankheit, Alkoholismus und Misswirtschaft des Vaters, sowie der schlechten wirtschaftlichen Verhältnisse verkauft werden müssen. Sie erwarb es nicht nur zurück, sondern ließ es auf repräsentative Weise aus- und umbauen, wovon bereits ihr Vater geträumt hatte. Es war der Ort, der sie geprägt hatte, wie nicht nur aus ihren Erinnerungen, sondern auch aus ihren anderen Werken deutlich wird. Um den ursprünglichen Ort vor dem Vergessen zu bewahren, begann sie, ihre Erinnerungen daran, sowie an die Menschen, die es bewohnten und zu Besuch kamen, aufzuschreiben.
In "Mårbacka", dem ersten Teil der Erinnerungen, stehen das Gut und ihr Vater im Mittelpunkt, während sie im zweiten, "Aus meinen Kindertagen", Geschichten, die sie selber erlebt hat, aus ihrer Perspektive erzählt. Im dritten Teil, "Das Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf", wird eine fiktive Reise nach Stockholm beschrieben. Dieser bildet somit einen Kontrast zu den ersten beiden Bänden: Während in den beiden ersten das ländliche Leben beschrieben wird, geht es im dritten um das Leben in der Stadt mit seinen zahlreichen kulturellen Angeboten.
Es sind die Erinnerungen einer Schriftstellerin, die bereits als Kind ihre Bestimmung gefunden hatte: "Ich bin eben doch gezwungen, Romane zu schreiben, wenn ich groß bin; denn dazu bin ich auf die Welt gekommen. Und ich fühle mich glücklich und froh, weil das nun entschieden ist."
Bücher, Erzählungen und Geschichten spielten immer eine große Rolle in ihrem Leben. Da war die Großmutter, die täglich Geschichten erzählte, es wurde regelmäßig vorgelesen und sie selber verschlang auch immer wieder Bücher. Es ist ein wunderbares Zeitbild aus einer Periode, in der sowohl erzählte als auch erlebte Geschichten von großer Bedeutung waren, in der sie noch sehr viel mehr geteilt wurden als dies heute der Fall ist. Sie bildeten den Hintergrund der Lebenswelt der Autorin und der Menschen in ihrer Umgebung, da gab es Hexen, sogar die uns hier unbekannten Osterhexen, Gespenster und Teufel. Die Grenzen zwischen dem realen Leben und den Geschichten waren fließend.
Als Kind konnte sie zeitweilig nicht laufen, später hinkte sie, weswegen sie sich teilweise von Gesellschaften ausgeschlossen fühlte, wie sie in ihrer Geschichte von einem Ball, den sie als Mauerblümchen erlebte, eindringlich beschreibt. Zweimal wurde sie deswegen zu Behandlungen nach Stockholm geschickt, wo sie das städtische Leben kennenlernte. Und alles sog sie wie ein Schwamm auf. Da sie Schriftstellerin werden wollte, war sie froh und dankbar für alles, was sie erlebte, nicht nur die schönen Dinge des Lebens, sondern auch die Schweren und Widerwärtigen, denn auch die wollte sie gut beschreiben können. Sie fand, dass "solange es schöne Bücher zum Lesen gibt, meine ich, es brauche niemand, weder ich noch irgendein anderer Mensch, unglücklich zu sein."
Inspiration fand sie dann auch in allem, was um sie herum geschah. Wie sich an ihrem fiktiven Tagebuch zeigt, ließ sie sich von Allem, was um sie herum geschah, inspirieren. Darin lässt sich die Protagonistin vom Tode des damaligen Königs zu der Zeit, als sie in Stockholm war, zu einem Roman anregen. Auch an der damals sehr bekannten Schriftstellerin Frederika Bremer orientierte sie sich, sie las deren Werke und sah es als gutes Zeichen, dass diese im gleichen Gymnastiksaal in Stockholm gewesen war wie sie.
Und das Schreiben wurde ihr nach dem Lesen dann auch wichtiger, sie entdeckte das Vergnügen, ein Tagebuch zu schreiben: "Es ist fast noch unterhaltsamer als Romane zu lesen." Zum Glück blieb es bei ihr nicht, wie bei zahlreichen anderen Frauen, beim Tagebuchschreiben, sondern wandte sie sich dem Schreiben großer Romane zu.
AVIVA-Tipp: Die Erinnerungen sind eine gute Ergänzung zu den Romanen und Erzählungen von Selma Lagerlöf und ein wunderbares Zeitbild. Sie bilden einen Entwicklungsroman einer Schriftstellerin, die bereits früh wusste, wohin ihr Weg sie führen würde.
Zur Autorin: Selma Lagerlöf kam 1858 auf dem Gut Mårbacka in der entlegenen schwedischen Provinz Värmland zur Welt. Mit 23 Jahren ging sie gegen den Willen ihres Vaters nach Stockholm, um das Lehrerinnenseminar zu besuchen, und war danach zehn Jahre Lehrerin in Landskrona am Öresund. Abende und Nächte hindurch schrieb sie und erschien morgens, so wird überliefert, mit tintenfleckigen Fingern zum Unterricht. 1891 erschien ihr Erstlingswerk Gösta Berling, und wenige Jahre später konnte sie bereits als freischaffende Schriftstellerin leben und sich auf ausgedehnten Reisen die Welt erobern. Am 16. März 1940 starb sie auf ihrem Gut Mårbacka.
Zur Übersetzerin: Pauline Klaiber-Gottschau (1855-1944) wurde 1855 als Pfarrerstochter in Frauenzimmern bei Brackenheim geboren. 1918 heiratete sie Professor Dr. Max Gottschau, mit dem sie anfangs in Würzburg lebte. Von 1925 bis zu ihrem Tod 1944 lebte sie in Stuttgart. Sie übersetzte Literatur aus dem Schwedischen, Norwegischen, Dänischen und Englischen, so z.B. Werke von Selma Lagerlöf, Sophie Elkan, Evy Fogelberg, Ingeborg Maria Sick und Knut Hamsun.
Selma Lagerlöf
Die Erinnerungen.
Mårbacka. Aus meinen Kindertagen. Das Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf
Aus dem Schwedischen von Pauline Klaiber-Gottschau
Mit einem Nachwort von Holger Wolandt
Verlag Urachhaus, erschienen 2016
Gebunden mit Umschlag. 620 Seiten
ISBN 978-3-8251-7959-5
Euro 24,90
www.urachhaus.de
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Die Biografie von Selma Lagerlöf auf Fembio: www.fembio.org