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Beitrag vom 24.08.2016
Ariëlla Kornmehl - Alles, was wir wissen konnten
Romina Wiegemann
Die in Amsterdam geborene Schriftstellerin erzählt von der niederländischen Jüdin Jet, deren Leben durch die traumatischen Erfahrungen, die ihr als junge Frau während der nationalsozialistischen Besatzung widerfuhren, auf existentielle Weise beeinflusst geblieben ist.
Die Wirkmächtigkeit des Schweigens und die generationale Weitergabe des Unausgesprochenen sind zwei Phänomene, die in diesem Roman besonders greifbar werden.
Als die Niederlande unter nationalsozialistischer Besatzung stehen, ist die aus wohlhabendem Hause stammende Jet ein junge Frau. Aufgrund der für Jüdinnen und Juden bestehenden Lebensgefahr beschließen ihre Eltern, dass Jet bei Henk, einem Bekannten, untertauchen soll. Getarnt als Henks neue Haushaltshilfe zieht sie bei ihm ein. Mit in ihre Zufluchtsstätte nimmt sie ihre Liebe Mischa, der aus Deutschland vor dem Naziterror geflüchtet war, und nun als Jude erneut der Verfolgung ausgesetzt ist. Im Unterschied zu Jet darf Mischa sich aus Sicherheitsgründen in Henks Haus nicht frei bewegen und bezieht einen Verschlag im Keller.
Gefährlich wird die Situation für Jet, als Herr Van Keulen, der mit seiner Familie im Nebenhaus lebt, von Jets Herkunft erfährt. Der verheiratete Mann und Vater zweier Töchter ist ein Nazi-Kollaborateur und handelt mit Raubkunst. Er erpresst Jet damit, sie auffliegen zu lassen und vergewaltigt sie regelmäßig. Jet wird schwanger. Sie will das Kind nicht, provoziert aber keinen Schwangerschaftsabbruch. Nach der Geburt des Sohnes beansprucht Van Keulen das Baby für sich und konstruiert eine Geschichte über seine Herkunft, die dazu führt, dass seine Frau den kleinen Otto als ihren Sohn aufzieht. Für Jet, die bis zum Ende des Krieges im Haus nebenan lebt, ist es äußerst schmerzhaft, tagtäglich Zeugin davon zu werden. Wider Erwarten sind Muttergefühle in ihr erstarkt, die sie aufgrund des qualvollen Hintergrunds von Ottos Zeugung nicht für möglich erachtet hatte. Jet nützt jede Möglichkeit, einen Blick auf Otto zu erhaschen und ist erleichtert darüber festzustellen, dass die Van Keulens sehr liebevoll mit ihm umgehen.
Das Kriegsende, das Mischa in seinem Versteck herbeisehnt, ist für Jet eine Art Schock. Sie weiß, dass sie Henks Haus nun verlassen muss und Otto, der mittlerweile ein kleiner Junge ist, möglicherweise nie wieder sehen wird. Gleichzeitig erhält sie Gewissheit darüber, dass ihre Eltern ermordet wurden. Unter diesen bitteren Voraussetzungen gründet sie mit Mischa, der gesundheitlich schwer an den Folgen der Jahre im Versteck gelitten hat, eine Familie.
Der Roman macht einen Zeitsprung und wir finden uns in New York wieder. Otto, Jets Sohn, heißt mittlerweile Collins, und hat dort Fuß gefasst. Er ist verheiratet und Vater zweier Kinder. Unterstützt durch seinen Vater, der ihm eine gute Ausbildung ermöglicht hat, arbeitet er nun erfolgreich als Auktionator und handelt mit Kunstwerken. Über seine wahre Herkunft hat er niemals etwas erfahren.
Collins ist in seiner Ehe unglücklich, er sehnt sich nach einer Frau, die ihn wirklich versteht. Im Verlauf des Romans verliebt er sich in eine Studentin und findet bei ihr den Ort, an dem er sich zum ersten Mal wirklich angekommen fühlt. Generell sind seine Gefühle oft widersprüchlich, etwas, das er nicht benennen kann, lastet auf ihm.
Als er Nachricht davon erhält, dass seine Eltern bei einem Unfall ums Leben gekommen sind, reist er zum ersten Mal seit Langem in die Niederlande. Auf dem Begräbnis macht er Bekanntschaft mit einer geheimnisvollen älteren Frau, die er aber nicht weiter verfolgt. Als ihm Jahre später, im Rahmen seiner beruflichen Tätigkeit, ein Gemälde von Degas in die Hände fällt, das mit Nazi-Raubkunst in Verbindung gebracht wird, wird ihm schlagartig bewusst, wie wenig er über seinen Vater wusste…
AVIVA-Fazit: Die Palette an Themen, die Ariëlla Kornmehl auf knapp 200 Seiten verhandelt, kann überwältigen. Die Erzählung wirkt abgespult, durchaus interessante Aspekte werden oft nur angeschnitten, um dann unbearbeitet zu bleiben. Die Beziehung zwischen Mischa und Jet, die Hintergründe des Raubkunst-Handels und Collins psychische Verfasstheit sind nur Beispiele für Themen, die eine nähere Betrachtung verdient hätten. Die vergleichsweise ausufernde, übertrieben negative Darstellung von Collins´ Ehefrau sowie die sentimentale Beschreibung von seiner Liebe für Stella nehmen dagegen so viel Raum ein, dass es der Seriosität des Romans abträglich ist. In Kombination mit einem eher einfach gestrickten Erzählstil kann daher stellenweise der Eindruck entstehen, einen Kitsch-Roman vor sich zu haben. Die Autorin wird dem an sich anspruchsvollen Stoff und der tragischen Lebensgeschichte von Jet, die auf den Erinnerungen ihrer Großmutter beruht, mit diesem Roman leider nicht gerecht.
Zur Autorin: Ariëlla Kornmehl, geboren 1975, lebt in Amsterdam, wo sie Philosophie studierte. Sie hat mehrere Jahre in Südafrika verbracht. "Alles, was wir wissen konnten" ist nach "De familie Goldwasser", "Der Schmetterlingsmonat" (2006) und "Was du mir verschweigst" (2011) ihr vierter Roman. (Quelle: Verlagsinformationen)
Zur Übersetzerin: Marlene Müller-Haas, geboren 1948, studierte Kunstgeschichte, Niederlandistik und Germanistik in Amsterdam und Berlin, lehrte an der Freien Universität Berlin und lebt heute als freie Übersetzerin in Berlin. Sie übersetzt Belletristik, Sachbücher und Ausstellungskataloge. Müller-Haas ist Mitglied des Verbandes Deutschsprachiger Übersetzer Literarischer und Wissenschaftlicher Werke. 2002 erhielt sie für ihre Übersetzung des Essaybandes Kirschenblut von Charlotte Mutsaers den Else-Otten-Übersetzerpreis. (Quelle: Galiani Verlag Berlin)
Ariëlla Kornmehl
Alles, was wir wissen konnten
Originaltitel: Wat ik moest verzwijgen bij Uitgeverij Cossee
Aus dem Niederländischen übersetzt von Marlene Müller-Haas
Hoffmann und Campe, erschienen am 19.08.2016
Hardcover mit Schutzumschlag, 208 Seiten
ISBN 978-3-455-40541-5
20 Euro
www.hoffmann-und-campe.de
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