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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 06.07.2016


Alexandra Senfft – Der lange Schatten der Täter
Ahima Beerlage

Hat sich die Enkelin eines NS-Kriegsverbrechers in "Schweigen tut weh" mit den emotionalen Verwüstungen in der eigenen Familie auseinandergesetzt, trifft sie nun auch auf Nachkommen anderer NS-Täter. Sie lässt...




... sie in autobiographisch-narrativen Interviews zu Wort kommen und deckt damit die Folgen von Verleugnung und eisernem Schweigen für die Kinder und Enkel der TäterInnen auf.

In ihrem Buch "Schweigen tut weh" arbeitete Alexandra Senfft ihre Familiengeschichte auf. Hanns Ludin, der Großvater der Autorin, war verantwortlich für die Deportation tausender Jüdinnen und Juden in die Vernichtungslager. Dafür wurde er nach Kriegsende gehenkt. In ihrer Familie wurde diese Tatsache mit Schweigen zugemauert und mit positiven Umwertungen übertüncht. Der NS-Verbrecher mutierte zum "guten" Nazi, der nur seine Pflicht getan hat. Aus dieser nicht aufgearbeiteten Familiengeschichte entwickelte sich ein Gift, das letztendlich die Mutter der Autorin zerstörte. Durch dieses Buch berührt, meldeten sich immer mehr Nachkommen auch anderer NS-Täter bei ihr und teilten ihre Geschichte mit Alexandra Senfft. Daraus entstand ihr neues Buch "Der lange Schatten der Täter".

Hintertüren und Ausflüchte

Nicht alle ihre GesprächspartnerInnen aber sind bereit, die Generation ihrer Eltern oder Großeltern uneingeschränkt als Täterinnen und Täter zu sehen. Zu groß ist der innere Widerstand, sie als aktiv Mitwirkende im NS-System zu sehen. Viele sehen die Handelnden im Befehlsnotstand an den Führer-Eid gebunden oder berichten, eigentlich hätten diese auch Juden gerettet oder nicht gewusst, dass die Deportierten ermordet wurden. Und damit rutschten die Angehörigen gar in eine Opferrolle. Das Familiennarrativ wurde aus Angst, mit dem daraus resultierenden Loyalitätskonflikt nicht umgehen zu können, nicht hinterfragt. Groß war auch die Furcht, von der eigenen Familie als NestbeschmutzerIn ausgeschlossen zu werden. Doch das Gehörte hat sich eingebrannt, denn Kinder lassen sich nicht so leicht täuschen. "Den Kindern vermitteln sich (...) die abgewehrten und verleugneten Erfahrungsanteile auf nonverbale Weise. (...) Ältere Kinder entdecken die (logischen) Widersprüche zwischen proklamierter Lebensgeschichte und den affektiven Botschaften." Diese verwirrenden Botschaften werden zu einem wachsenden Problem für die Nachkommen. Wenn das Gebot des Schweigens innerhalb der Familie keine Aufklärung bietet, sucht sich die Wahrheit andere Bahnen. "Reinszinierungen bei den Nachkommen sind Versuche der Aneignung, des Verstehens und des Erlösens und Heilens der Eltern."

Folgen, die in die Gegenwart wirken

Mit dem Tod der Täterinnen und Täter sind somit unreflektierte und unbearbeitete Welt- und Menschenbilder nicht verschwunden. Denn die Verstrickungen der Eltern führen bei den Kindern oder deren Kindern zu neuen Verstrickungen. Das kann destruktive Folgen haben, bis hin zu Gewalt gegen sich und andere, Extremismus, Rassismus, Depression und Sucht. Deshalb ist die Aufarbeitung auch heute noch so wichtig, Verharmlosungen werden entkräftet und die wahre Dimension der Verbrechen ohne Hintertüren und Ausflüchte sichtbar.

Heilung durch Klärung

Für viele Nachgeborene ist die Aufarbeitung jedoch erst nach dem Tod der Beteiligten möglich. Zu wirkmächtig sind die Familiennarrative. Umso wichtiger ist es, dass sich auch die Nachkommen der "kleinen Rädchen" im NS-Getriebe ihrer Geschichte stellen. Eine Aufarbeitung ist nach Auffassung der Autorin unerlässlich. Die Verdrängung der Wahrheit bindet Energie, die zum Leben gebraucht wird. Die widersprüchlichen Botschaften aus der Kindheit verringern das Selbstvertrauen und verstellen den Blick für richtige Denk- und Handlungsmuster. Sie können zu Depressionen und anderen psychischen Störungen führen. Viel entscheidender nimmt die nicht aufgearbeitete Nazi-Vergangenheit in den Familien Einfluss auf die politische Landschaft. "Lebensgeschichten, die durchgearbeitet und reflektiert sind, entziehen der nationalsozialistischen deutschen Vergangenheit den negativen Einfluss auf die Gegenwart."

Stark durch Subjektivität

In allen Begegnungen, die Alexandra Senfft in ihrem Buch beschreibt, bleibt sie sichtbar und persönlich involviert. Das macht diese Begegnungen so stark. Sie versteht die Kämpfe ihrer Gegenüber. Sie weiß, wie groß der Schrecken der Psychologin Paula Albrecht ist, wenn sie die Geschichte ihres Vaters in einem Buch wiederfinden soll, auf dessen Cover ein Nazi abgebildet ist. Senfft schenkt ihr zunächst einen Einblick in ihre ersten Kämpfe mit dem Thema, bis Paula Albrecht eingestehen kann: "Entweder du verletzt deine Verwandten, oder du verletzt die Wahrheit." Manche ihre GesprächpartnerInnen kämpfen in Institutionen mit ihrer Aufarbeitung, andere ganz individuell. Für manche ist rein biografisch die Zugehörigkeit zwischen Opfern und Tätern nicht klar zu ziehen wie bei Freimut Duve, dessen Großvater mütterlicherseits zu den Gründungsmitgliedern einer NSDAP-Ortgruppe gehörte und dessen unehelicher Vater der Großneffe von Theodor Herzl war. Seine Mutter hatte den Vater verschwiegen, um Freimut das Schicksal eines "Mischlings I. Grades" zu ersparen. Erkenntnisreich hat sich Alexandra Senfft auf diese Reise der Aufarbeitung gemacht und nimmt die LeserInnen dabei mit einer eindringlichen und bildreichen Sprache mit. Diese Reise endet fast schon zwangsläufig in der KZ-Gedenkstätte Auschwitz, denn an diesem Ort gibt es keine Ausweichmöglichkeit, keine Verharmlosung mehr.

AVIVA-Tipp: Im Dialog mit Nachkommen von NS-TäterInnen, werden diese durch Alexandra Senffts eigene Familiengeschichte "Schweigen tut weh" ermutigt, sich der Autorin zu öffnen und ihrer Familienwahrheit zu stellen. Geschult durch ihre politische Arbeit in Israel und die Dialogarbeit mit Dan Bar-On führt Senfft auf Augenhöhe liefert die Autorin dazu wichtige politische und psychologische Erkenntnisse, die deutlich machen, wie sehr das jahrzehntelange Schweigen über die Schuld Auswirkungen bis in unsere heutige Gesellschaft hat. Eine wichtige Ergänzung zu den aufarbeitenden Romanen "Die Annäherung" von Anna Mitgutsch und "Mein Großvater stand vorm Fenster und trank Tee Nr. 12" von Naomi Schenck sowie zu der Textsammlung "Beidseits von Auschwitz. Identitäten in Deutschland nach 1945", erschienen im Berliner Lichtig Verlag.

Zur Autorin: Alexandra Senfft geboren 1961, hat Islamwissenschaft studiert. Sie war Nahostreferentin der Fraktion Die Grünen im Bundestag und UN-Mitarbeiterin in der Westbank und im Gazastreifen. In Israel arbeitete sie als Gutachterin von Dialogprojekten. Alexandra Senfft war fünf Jahre Vorstandsmitglied des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten (diAk).
Sie arbeitete eng mit dem verstorbenen israelischen Psychologen Dan Bar-On zusammen, zuletzt von 2006 bis 2008 in dem Trainingsprogramm "Storytelling in Conflicts" der Körber-Stiftung. Von ihm lernte sie den biographischen Ansatz zur Konfliktlösung. 2007 erschien ihr Buch "Schweigen tut weh"(Claassen und List), wofür sie sie mit dem Deutschen Biographiepreis 2008 ausgezeichnet wurde. Mit John Bunzl hat sie den Band "Zwischen Antisemitismus und Islamophobie" (2008) herausgegeben. 2009 veröffentlichte sie das Buch "Fremder Feind, so nah", in dem die Autorin mit Palästinensern und Israelis gemeinsam um den Frieden in Palästina und Israel ringt, deren Grundlage nur ein gleichberechtigter Dialog beider Seiten sein kann. Alexandra Senfft war TV-Reporterin und Redakteurin und schreibt seit 1991 für namhafte Zeitungen und politische Zeitschriften.
(Quelle: edition Körber-Stiftung)
Die Autorin im Netz: www.alexandra-senfft.de

Alexandra Senfft
Der lange Schatten der Täter

Verlag Piper, 2. Mai 2016
352 Seiten, Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN: 978-3-492-05739-4
€ 22,00
www.piper.de

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Ein mutiges Buch, in dem die Autorin mit Palästinensern und Israelis gemeinsam um den Frieden in Palästina und Israel ringt, deren Grundlage nur ein gleichberechtigter Dialog beider Seiten sein kann. (2009)

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Die Szenenbildnerin, Autorin und FAZ-Kolumnistin Naomi Schenck erbt von ihrem Großvater, einem Pionier der Fotochemie, den Auftrag, seine Biografie zu schreiben. Schon bald findet sie heraus, dass Günther Otto Schenck bereits 1933 der SA beigetreten ist und 1937 NSDAP-Mitglied wurde. (2016)

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Nea Weissberg, Jürgen Müller-Hohagen. Beidseits von Auschwitz Identitäten in Deutschland nach 1945. Dreißig Beiträge und Schlussgedanken von Halina Birenbaum
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In ihrem neuen Buch demonstriert die israelische Psychoanalytikerin, klinische Psychologin und Supervisorin in einem gut referierten wissenschaftlichen und einem anschaulich dargestellten fallanalytischen Anamnese-Teil den heilenden Einsatz kreativer Symbol- und Phantasiearbeit im Verlauf einer Therapie mit der Second Generation – Klientel. (2016)

Kathrin Kompisch - Täterinnen. Frauen im Nationalsozialismus
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Beitrag vom 06.07.2016

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