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Beitrag vom 01.02.2016
Rose Lagercrantz - Wenn es einen noch gibt
Annika Hüttmann
Wie kann eine Familiengeschichte geschrieben werden, wenn sie so grausam ist, dass kaum jemand davon erzählen möchte? Rose Lagercrantz gelingt es mit ihrem Buch, über das Schweigen zu sprechen.
"Du hast so viele Bücher geschrieben. Reicht das nicht bald?" fragt ihre im Sterben liegende Mutter die Erzählerin an einer Stelle des Buches. Und tatsächlich gehen dem autobiographischen Wenn es einen noch gibt der schwedischen Autorin Rose Lagercrantz eine lange Reihe Bücher, vor allem Kinderbücher, voraus. Auch ist es nicht das erste Werk, in dem sie ihre Familiengeschichte verarbeitet.
Oder besser gesagt: Fragmente aus dieser Geschichte. Denn ein paar Bilder, einige Briefe und widerwillig erzählte Bruchstücke sind alles, was Lagercrantz hat um zu rekonstruieren, wie es kommt, dass es ihre über Paris, Stockholm, Budapest, Montreal und Johannesburg verstreuten Verwandten nach der Shoah noch gab oder gibt.
Ihre Mutter beispielsweise überlebte sowohl Auschwitz als auch Bergen-Belsen, darüber reden möchte sie nicht. Und als die Autorin ihrer in Südafrika lebenden Tante erklärt, sie sei auf der Suche nach ihren Wurzeln sagt diese nur: "Forget about it. Die Wurzeln sind gekappt worden." Wie überlebt mensch das Überleben? Vielleicht nur durch Vergessen.
Lagercrantz macht es sich trotzdem zur Aufgabe, die Geschichten ihrer Verwandten aufzuschreiben. Die sechzehn Kapitel des Buches sind jeweils nach einem Familienmitglied benannt und schildern, neben der fast detektivischen Suche nach Informationen, Szenen aus deren Leben: Vor, nach und während des Holocausts. "Irgendjemand muss davon erzählen, sonst haben diese Menschen und deren Erlebnisse nie existiert."
Die Autorin versucht dabei jedoch nicht, Lücken zu füllen oder auszuschmücken, eine große Stärke ihrer Erzählweise ist, dass sie bereit ist zu akzeptieren, dass sie die einzelnen Fragmente nie zu einer ganzen Geschichte zusammenfügen werden kann. Sie lässt Rekonstruktionen grausamer Erfahrungen neben liebevollen Personenportraits stehen, beschreibt mal mit Humor, mal mit Entsetzen, mal einfühlsam und vorsichtig ihre eigenen Erinnerungen und die ihrer Familie. Unvollständig und zugleich detailreich.
Immer wieder führt die Erzählung dabei zurück an das Krankenbett der Mutter, das Lagercrantz täglich besucht. In ihrer letzten Zeit ist das einzige, das die immer schwächer werdende Frau noch am Leben hält, die Tatsache, dass die Tochter da ist, dass es sie gibt. Und die Autorin stellt sich nach dieser Erkenntnis die Kernfrage des Buches: "Warum gibt es mich?"
Erst spät im Leben begriff ich etwas von dem besinnungslosen Überlebenskampf, der meiner Existenz vorausgegangen war. Wäre ich einige Jahre eher geboren worden aus Gott weiß was für einer Konstellation, hätte es mich vermutlich nicht besonders lange gegeben.
Wenn es einen noch gibt handelt vielleicht vor allem von der Autorin selber. Von ihrem Wunsch, ihr eigenes Leben zu kontextualisieren und sich damit abzufinden, dass mit ihrer Mutter eine der letzten Verbindungen zu ihren Ursprüngen verschwindet. Bereits in anderen ihrer Bücher beschriebene Szenen werden zusammen geführt oder ergänzt. Im Fall ihrer Cousine Adeline, der Lagercrantz 1992 ein Buch widmete, sogar gänzlich neu verstanden. Dies beantwortet die Frage der Mutter, warum sie weiter Bücher schreibt: Sie hatte noch nicht fertig erzählt. Oder wie es einleitend heißt: "Nun muss ich beeilen, alles zu erzählen, ehe es ganz verschwindet."
AVIVA-Tipp: Rose Lagercrantz hat sich mit diesem Buch eine große Aufgabe gestellt und sie durch ihre Art des Erzählens meisterhaft gelöst. Die grausamen Erfahrungen, die ihre jüdischen Familienmitglieder während der Shoah machen mussten, werden rekonstruiert und beschrieben, jedoch immer vor dem Hintergrund, wie das Leben für die, die sich retten konnten, weiterging. Es ist der Autorin gelungen, festzuhalten, was nicht vergessen werden darf und gleichzeitig nachvollziehbar zu machen, warum gerade das Vergessen für viele ihrer Verwandten überlebenswichtig war.
Zur Autorin: Rose Lagercratz wurde 1947 in Stockholm geboren. Sie arbeitete in einem Kindertheater sowie für Funk und Fernsehen, bevor sie zu schreiben begann. Ihre zahlreichen Kinderbücher wurden in viele Sprachen übersetzt und die Autorin mehrfach preisgekrönt. "Wenn es einen noch gibt" ist ein Buch für Erwachsene. (Quelle:Verlagsinformationen)
Die Autorin im Netz: www.roselagercrantz.se
Zur Übersetzerin: Angelika Kutsch, 1941 geboren, ist eine deutsche Schriftstellerin und Übersetzerin. Kutsch schreibt Kinder- und Jugendliteratur und ist eine renommierte Übersetzerin aus dem Schwedischen. 1975 Sonderpreis zum Deutschen Jugendbuchpreis für ihren Roman "Man kriegt nichts geschenkt". 2014 Sonderpreis des Deutschen Jugendliteraturpreises für ihr übersetzerisches Gesamtwerk.
Rose Lagercrantz
Wenn es einen noch gibt
Ein Familienportrait
persona verlag, erschienen Juni 2015
Gebunden, 176 Seiten
ISBN 978-3-924652-41-8
17,50 Euro
www.personaverlag.de
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