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Beitrag vom 15.01.2016
Rafaela Thoumassian - Werwolf oder Taube
David Schahinian
In einem gänzlich neuen Blickwinkel betrachtet die als Tochter armenischer Christen in Deutschland geborene Schriftstellerin in ihrem Debütroman das Lebenstrauma ihrer Ahnen, das bis heute ...
... nachwirkt: den Völkermord an den Armeniern und Armenierinnen.
Bis zu 1,5 Millionen Armenier_innen sind in der Zeit des Ersten Weltkrieges in der Türkei ums Leben gekommen.
"Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schweigen."
Die Frage an den österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein, von dem dieses Zitat stammt, muss erlaubt sein: Auch nach mehr als 100 Jahren?
Unter Historiker_innen herrscht heute weitgehend Einigkeit, dass das Vorgehen der Jungtürken als Völkermord zu werten ist. Im vergangenen Jahr, zum 100. Jahrestag, befassten sich auch die deutschen Medien umfassend mit dem Thema. Die Türkei aber leugnet den Genozid bis heute. Wer sich nicht an Wittgenstein hält und darüber spricht, muss um seine Freiheit, auch um sein Leben fürchten: 2007 wurde der armenische Journalist Hrant Dink in Istanbul auf offener Straße erschossen.
Natürlich ist Armenien sehr viel mehr. Rafaela Thoumassian hat armenische Eltern und wurde in Deutschland geboren, wo sie auch aufwuchs. "Werwolf oder Taube" ist keine Autobiographie, doch drängt sich mehr als einmal die Vermutung auf, die Autorin in der Protagonistin Ana sehen zu können. Sie fühlt sich seltsam rastlos und fremd in dem Land, in dem sie geboren wurde, auch wenn es ihr objektiv an nichts fehlt. Wie wahr: "Das haben Armenier mit der Türkei und Deutschland gemeinsam: Unsere Vergangenheit ist durch ein schreckliches Verbrechen am Mensch-Sein, und dadurch an uns selbst, wie ausradiert. Als fehle uns ein großes Stück unserer Identität."
Diese Zerrissenheit wird in "Werwolf oder Taube" mit einem geschickten Schachzug aufgenommen: Schilderungen aus den Tagebüchern von Anas Reisen nach Armenien wechseln sich mit einer im wahrsten Sinne traumhaft-mythischen Geschichte ab. Ana taucht wiederholt in Antaram, idyllisch am Grunde des Sewansees gelegen, ein. Das Dorf unter Wasser wird von eigensinnigen, aber liebenswerten Charakteren bevölkert.
Der Kontrast zwischen beiden Welten ist mitunter groß, und schwer zu ertragen. Etwa, wenn Ana in ihrem Reisetagebuch eindringlich schildert, wie sie den Besuch am Völkermord-Mahnmal empfunden hat. Wütend, traurig, enttäuscht – sie ringt mit den Worten, doch nicht aufgrund der Traurigkeit – sie hatte etwas anderes erwartet. Was sie sah, waren Menschenmassen, Konsum, herumliegender Müll. Die Unsicherheit, nicht zu wissen, was folgt, zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman und hält die Aufmerksamkeitsspanne hoch, ohne dass sich die Autorin verzettelt. Eine Suche nach sich selbst, nach den (eigenen) Wurzeln, nach Seelenfrieden: Sie kann nicht geradlinig verlaufen.
Fündig, das wird Ana auf ihrer Suche klar, kann sie nur in sich selbst werden. Die Erkenntnis, die im Roman zunächst auf leisen Sohlen daherkommt, birgt Zündstoff. Denn sie bedeutet, sich unabhängig von einem Gegenüber zu machen. Und von einer Entschuldigung, die vielleicht nie kommen wird. Vergebung ist ein zentraler Begriff des Christentums, und Armenien war weltweit der erste Staat, der das Christentum im Jahr 301 nach christlicher Zeitrechnung zur Staatsreligion erklärte. Ob das eigene Herz groß genug ist, auch unsagbare Schandtaten, wenn auch nicht zu vergessen, aber zu vergeben, ist eine Schlüsselfrage, die sich jede Leserin und jeder Leser stellen kann – unabhängig von der Nationalität.
AVIVA-Tipp: Werwolf und Taube symbolisieren den Gegensatz von Mythen und Gewalt auf der einen und dem Wunsch nach Harmonie und Frieden auf der anderen Seite. Rafaela Thoumassian gelingt es, beides stilvoll und mit starkem persönlichem Einschlag zu verknüpfen. Das Buch ist, obwohl mit der Vergangenheit befasst, auf die Zukunft gerichtet. Die Beschreibung der Personen und der Landschaft in Antaram sind sprachlich besonders schön gelungen und zählen zu den großen Stärken des Romans. Ganz nebenbei vermittelt er viele Impressionen vom kleinen, aber kulturell reichen Armenien. Thoumassian hat ein erstaunlich reifes Erstlingswerk abgeliefert.
Zur Autorin: Rafaela Thoumassian wird 1975 als Tochter armenischer Christen in Deutschland geboren. Die Kultur ihrer Ahnen wird ihr vor allem von den Eltern und im armenischen Kulturverein vermittelt. Nach dem Abitur absolviert sie ein Philosophie-Studium, das sie mit Magister abschließt. Thoumassian ist dreisprachig (armenisch, deutsch, türkisch) aufgewachsen und reist 2004 erstmals nach Armenien, weitere Reisen folgen. Die Tagebücher, die sie dort schreibt, sind ein zentraler Bestandteil ihres vorliegenden Erstlingsromans. Mit einem Auszug daraus nahm sie erfolgreich am "Martha-Saalfeld-Literaturwettbewerb" teil. Thoumassian arbeitet im Medienbereich und der Erwachsenenbildung.
Mehr Infos zur Autorin auf ihrer Homepage. www.armenischetaube.de
Rafaela Thoumassian
Werwolf oder Taube
BoD Norderstedt, erschienen Oktober 2015
Taschenbuch (auch als E-Book erhältlich), 272 Seiten
ISBN-13: 978-3-7386-4062-5
13,90 Euro
Bestellen unter: armenischetaube.de