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Beitrag vom 13.12.2015
Karen Krüger und Anna Esser - Bosporus reloaded. Die Türkei im Umbruch
Helga Egetenmeier
Brisant nah an den aktuellen, auch geschlechterpolitisch unterlegten Spannungen in der türkischen Gesellschaft, plädieren die Autorinnen mit ihrem schwungvollen Feuilletonstil für mehr ...
...Demokratie. Dem Blick in die Türkei, der Brücke zwischen Okzident und Orient, stellen sie ihre Neugier auf die Auswirkungen der Demonstrationen um den Gezi-Park an die Seite.
Die Proteste um den Istanbuler Gezi-Park und den angrenzenden Taksim-Platz im Sommer 2013, durch die sich die junge türkische Generation zuerst gegen das Abholzen von Bäumen und nachfolgend gegen die Politik des regierenden Recep Tayyip Erdogan wehrten, bilden den Kern von Anna Essers und Karen Krügers Blick auf den Scheideweg, vor dem sie die Türkei stehen sehen.
Die in Deutschland geborenen Autorinnen verbrachten ihre Jugend aus familiären Gründen in Istanbul. "Wir schauen mit deutschem Blick auf Dinge, die uns einerseits fremd, durch unsere Biographien aber auch sehr vertraut sind." So schreiben sie empathisch gegen Klischeevorstellungen an und machen gleichzeitig den vielfältigen Widerstand gegen die konservative türkische Regierungspolitik sichtbar. Ihr Bezugspunkt, die Welt- und Partystadt Istanbul mit ihren Freiheiten, wie Techno-Clubs, der Transvestiten-Szene und den Möglichkeiten, homosexuell und ehelos zu leben, zeigt auch die Ungewissheit, der sie nachspüren, denn sie ist gleichzeitig "einer der wichtigsten Rekrutierungsorte für den IS."
Zwischen personifizierten Anbindungen und ergänzendem Hintergrundwissen wechselnd, nehmen sie sich die großen Themen Bildung und Militär, Medien und Zensur, Kultur, Politik und Religion vor. In vierzehn Kapiteln begleiten sie dabei die aktuelle Protestkultur und verweisen auch auf die seit vielen Jahren vorhandenen progressiven Diskurse und Kämpfe.
Anhand eines kurzen Dialogs zweier Frauen in einem hippen Istanbuler Café über den Dauerbrenner Kopftuch, vermitteln die Autorinnen prägnant deren persönlichen Konflikt bei ihrer Suche nach Freiheit und Individualität. Die patriarchal ausgerichtete Politik interessiert sich dabei nicht für die Bedürfnisse der Frauen, sondern vereinnahmt deren Körper und kaschiert damit ihre rücksichtslosen Machtkämpfe. Mit dem Kampf um die Gleichberechtigung der Geschlechter entstanden in der Türkei viele Frauenorganisationen, wie die 1997 gegründete und im Jahr 2015 mit dem Anne-Klein-Preis ausgezeichnete Organisation KAMER (Kadin Merkezi / Frauenzentrum), die in einer Studie für das Jahr 2014 landesweit von 260 Morden an Frauen durch Ehemänner oder männliche Verwandte berichtet.
Die 1923 gegründete Republik Türkei mit ihrem ersten Präsidenten Atatürk führte offiziell die strikte Trennung zwischen Staat und Religion ein. Erdogan (2003 - 2014 Ministerpräsident, seit 2014 Staatspräsident) und seine AKP bemühen sich in den letzten Jahren vermehrt, ihre Politik mit ihrem konservativen Islamverständnis zusammen zu bringen. Das europäische Ausland erreichen meist nur die Zensurkämpfe der einigen wenigen kritisch dazu berichtenden türkischen Medien und die Verhaftung von JournalistInnen. Die Autorinnen geben in mehreren Artikeln immer wieder einen genaueren Einblick in diese Verknüpfungen zwischen Medienmacht, Gesetzgebung und Religion.
Dem angenehm plakativ-leichten Feuilletonstil ist es möglicherweise geschuldet, dass, obwohl die Autorinnen die Situation der Frau in der türkischen Gesellschaft immer kritisch im Blick behalten, keine weibliche Schreibweise den Weg ins Buch fand. Eventuell war dies auch ein Ausschlusskriterium gegen ein Verzeichnis von weiterführenden Links und Literaturhinweisen, was bei der Viezahl von Informationen und Bezügen bedauerlich ist.
AVIVA-Tipp: Neben der politischen Analyse zieht sich der geschlechterbewusste Blick der Autorinnen wie selbstverständlich durch ihre gehaltvollen und dennoch leichtgängigen Betrachtungen der türkischen Gesellschaft. Dabei geben sie den strukturierenden Genderzuweisungen die aktive Bedeutung, die in den meisten Betrachtungen von nationalstaatlichen Konstrukten fehlt - nicht minder spannend ist der Blickwinkel der Autorinnen für die deutsche und europäische Politik.
Zu den Autorinnnen:
Anna Esser, geboren 1977 besuchte zuerst das Gymnasium in Bingen am Rhein, wechselte 1988 an die Deutsche Schule in Istanbul an der ihr Vater unterrichtete, und machte dort 1996 das Abitur. In Berlin und Bielefeld studierte sie Sozialwissenschaften und Deutsch als Fremdsprache, war in Chile, Kolumbien und Spanien, und ging 2008 zurück nach Istanbul. Dort arbeitete sie als Deutschlehrerin für den DAAD, sowie an der Marmara-Universität und der Kültür-Universität und ist seit 2008 beim Goethe-Institut Istanbul zuerst als Deutschlehrerin, heute in der Kulturabteilung.
Karen Krüger, geboren 1975 in Marburg, zog mit 14 Jahren mit ihren Eltern nach Istanbul, machte dort ihr Abitur und studierte dann Geschichtswissenschaften, Soziologie und Romanistik in Bielefeld, Berlin und Bordeaux. Längere Forschungsaufenthalte verbrachte sie in Afrika, veröffentlichte drei Artikel (u.a. "Die Vergewaltigung von Tutsi-Frauen im ruandischen Genozid 1994" in Feministische Studien 22/2004) über den ruandischen Genozid und war Mitarbeiterin an der Humboldt-Universität in einem Projekt zu Afrikas Geschichte und Gegenwart. Als freie Journalistin schrieb sie für verschiedene Zeitungen und ab 2008 als Redakteurin im Feuilleton und Reiseblatt der FAZ. Im Rahmen des deutsch-türkischen Johannes Rau-Journalistenprogramms war sie 2009 zwei Monate Stipendiatin bei der türkischen Tageszeitung "Radikal" in Istanbul und ist seit 2012 bei der Feuilleton-Redaktion der FAS/Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung.
Karen Krüger, Anna Esser
Bosporus reloaded. Die Türkei im Umbruch
Aufbau Verlag, erschienen Oktober 2015
Klappenbroschur, 335 Seiten
ISBN-13: 978 3351036225
16,95 Euro
www.aufbau-verlag.de
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Anne-Klein-Preis 2015 für die Frauenrechtlerin Nebahat Akkoc, die 1997 die türkisch-kurdische Frauenrechtsorganisation KAMER gründete, die sich für Frauen einsetzt, die häusliche Gewalt erleben.
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(Nach weltweiten Protesten hob das oberste Gericht in Ankara das Urteil wegen Formfehlern auf, in der neuen Verhandlung wurde Pinar Selek im Dezember 2014 frei gesprochen.)
Interview mit der Regisseurin und Drehbuchautorin Yasemin Samdereli, die gemeinsam mit ihrer Schwester Nesrin Samdereli die Multi-Kulti-Komödie "Almanya. Willkommen in Deutschland" verwirklichte und Co-Drehbuchautorin der preisgekrönten TV-Serie "Türkisch für Anfänger" ist. (2011).
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