Henriette Schroeder - Ein Hauch von Lippenstift für die Würde. Weiblichkeit in Zeiten großer Not - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.03.2015


Henriette Schroeder - Ein Hauch von Lippenstift für die Würde. Weiblichkeit in Zeiten großer Not
Teresa Lunz

Welche Rolle spielen Kosmetika und weibliche Eleganz noch im Angesicht von Katastrophen, Belagerungszuständen, Haft? Die Journalistin und Dokumentarfilmerin stellt 23 Frauen und ihre persönlichen...




... Geschichten vor.

Schminken, die Haare richten, Parfum auftragen – in Situationen, in denen das bloße Überleben zählt, Zeichen von oberflächlicher Eitelkeit? Oder aber von exzeptioneller Tapferkeit? Der Gabe, der Bedrohung erhobenen Hauptes Stand zu halten und soweit möglich an seinem bisherigen Leben festzuhalten? Henriette Schroeder hat einen ungewöhnlichen Ansatz gewählt, um die prioritären Bedürfnisse von (weiblichen) Betroffenen in Krisengebieten, Arbeitslagern und unter anderen existenzbedrohenden Umständen zu untersuchen: Die Rolle der Schönheitspflege, bei welcher der Lippenstift seit über hundert Jahren eine Sonderrolle spielt.

23 Notsituationen, 23 Frauenschicksale

23 Frauen und ihre persönliche Leidensgeschichte hat die Autorin untersucht. Alle Frauen haben in den Gesprächen bzw. eigenen Berichten hervorgehoben, dass es Wichtigkeit behielt, sich zu pflegen und selbst unter Angst und Demütigung noch ästhetisch aufzutreten. Es ging ihnen darum, ihre ungebrochene weibliche Macht, ihren Stolz zu demonstrieren. "Schminken war Pflicht, jedesmal so, als ob es das letzte Mal sein würde", erinnert sich Senka Kurtovic, die drei Jahre als Journalistin im belagerten Sarajevo aushielt. Ein Lippenstift, belegen diese Zeugnisse, kann der letzte Anker sein, um an der alten Lebensführung festzuhalten. Es geht um mehr als um Wahrung der Ästhetik. Nämlich um die Selbstbestimmung darüber, wie frau der Welt begegnet und wahrgenommen wird. In Stasi-Untersuchungshaftanstalten wurde der psychische Druck auf die Gefangenen gezielt verstärkt durch die Verweigerung von Spiegeln in den Zellen. Edda Schönherz, wegen Unterstellung von Fluchtplänen in Hohenschönhausen inhaftiert, resümiert rückblickend: "So erniedrigten sie uns, wir hatten ja keine Chance, gepflegt zu erscheinen." Mit der verweigerten Überprüfung des eigenen Erscheinungsbildes droht der Kontrollverlust. Die Betroffene sieht sich genötigt, ihre weibliche Identität aufzugeben.

Persönliche Gespräche vermitteln Erfahrungen aus erster Hand

Die von der Autorin geführten Gespräche mit den Frauen, die Not und Entbehrung erlebten, sind teils in der Interview-Form, teils als zusammenhängende Texte mit Zitaten der Befragten wiedergegeben. Immer ist den Redeanteilen der Zeitzeuginnen zentrale Bedeutung eingeräumt, Henriette Schroeder liefert durch Fragen und Kommentare nur Anstöße, zu erzählen. Das Buch ist reich bebildert, zeigt Kriegsschauplätze, die betroffenen Frauen während Haft und Belagerung oder in der Folgezeit, dokumentiert ihren Weg fotografisch.

Alle Frauen teilen die Erfahrung: Es ist essentiell, das Äußere zu pflegen. Mit der eigenen Vernachlässigung beginnt der Verfall, die Selbstaufgabe. Ein beeindruckendes Beispiel liefert die 33jährige anonym gebliebene Yalda, die heute untergetaucht mit ihrem Sohn in Wien lebt. Sie ist aus ihrer Heimat Teheran geflohen, um dem ewigen Zwang zu entgehen. Im Interview sagt sie, dass Repression Angst schüre. Verstöße gegen die Repression wiederum nehmen die Angst und ermöglichen Freiräume, kleine Vergnügen. So erlebte sie vor ihrer Flucht Schmink- und Modeabende mit Freundinnen, die dem unentdeckten Experimentieren mit ihrer Weiblichkeit galten.

Zu weiteren Interviews traf Henriette Schroeder auch Überlebende von Konzentrationslagern. Ellen Presser, Leiterin des Kulturzentrums der Israelitischen Kultusgemeinde München, erzählt von ihrer Mutter Fela, die den Holocaust mit falschen Papieren im besetzten Polen überlebt hatte: "Für Fela war ein Stück Seife mindestens so wichtig wie Nahrungsmittel." Die chinesisch-amerikanische Autorin Emily Wu, die während der Kulturrevolution in China aufwuchs und die Umgestaltung des Landes zu einem kommunistischen Staat miterlebte, äußert im Interview: "Wir jungen Mädchen und Frauen verbrachten unendlich viele Stunden damit zu stricken, zu nähen, zu sticken oder Dekorationen für das Haus zu basteln. Unser Leben war so elend [...], dass wir alles taten, um es erträglicher zu machen."
Die internationale Chefkorrespondentin des CNN Christiane Amanpour, konnte im belagerten Sarajevo selbst beobachten, wie Eleganz und modische Accessoires in Notsituationen Aufwertung erfahren: Kleidung, Make-up und Frisuren wurden zu "Symbolen des Widerstandes".

Erinnert wird auch an die jungen Frauen der Popgruppe "Pussy Riot", die wegen eines als skandalös empfundenen Auftritts in Russland zu Haft in einer Sträflingskolonie verurteilt wurden. Nadezhda Tolokonnikova offenbart, dass auch heute noch Institutionen existieren, die gezielt versuchen, ihre Insass_innen zu brechen: Das "Frausein" unmöglich zu machen.

Im letzten Kapitel berichtet die Literaturnobelpreisträgerin Herta Müller über ihre Erfahrungen im sozialistischen Rumänien. Zu Verhören der Geheimpolizei erschien sie stets sorgfältig zurechtgemacht, penibel geschminkt, erst recht dann, "wenn ich zur Erniedrigung befohlen wurde." Sie hebt hervor, wie jede Diktatur danach strebt, weibliche Individualität in der Erscheinung abzuschaffen, indem allgemeine Anpassung verlangt wird. Jede aufwendige Zurechtmachung wird zur Transgression, führt als nicht dem Regime konforme Haltung zu Verdächtigungen. Eine beispielsweise in Nordkorea noch heute praktizierte Methode, um das perfekte "Kollektiv" zu schaffen. Heute wiederum, so schließt Herta Müller, betreiben viele wohlhabende Russinnen modische Exzesse, um die traumatische Erfahrung des auf Gleichheit und Entbehrung beharrenden Sozialismus zu überwinden.

Keine Eitelkeit, sondern Würde

Diese Verteidigung weiblicher Attribute – wie rot geschminkter Lippen – ist nicht gleichzusetzen mit nach außen gerichteter Gefallsucht. Eher mit dem Verlangen, vor sich selbst zu bestehen. So könnten die LeserInnen sich in der Auseinandersetzung mit der Thematik des Buches fragen: Geht es um die Beleuchtung weiblicher Eitelkeit? Die weibliche (Selbst-)Reduzierung auf den optischen Wert? Nein, legen die beleuchteten Schicksale offen. Es geht um eine besonders kühne Manifestation weiblichen Stolzes. In vielen Fällen sogar um eine Form des passiven Widerstandes, etwa gegen das Lagerregime im KZ.

Zur Autorin: Henriette Schroeder, 1961 in Bonn geboren, studierte Amerikanische Kulturgeschichte, Kunstgeschichte und Psychologie in München sowie Jewish Studies an der University in Washington, D. C. Sie besuchte die deutsche Journalistenschule in München. Von 1999 bis 2002 arbeitete sie in der Abteilung "Media Affairs" der OSZE in Kosovo sowie in Bosnien und Herzegowina. Henriette Schroeder ist Journalistin und Dokumentarfilmerin, in ihren Arbeiten befasst sie sich meist mit Zeitgeschichte sowie mit zentraleuropäischer und jüdischer Geschichte und Tradition. Sie lebt heute in Wien. (Quelle: Verlagsinformation)

AVIVA-Tipp: Henriette Schroeder präsentiert ein Panorama aus 23 "Geschichten über Würde und Weiblichkeit, über Würde und Schönheit, über Würde und Widerstand", (wie sie selbst in der Einleitung nennt), die sich so im Laufe der letzten 70 Jahre ereignet haben. Die von ihr geführten Interviews sowie der Fokus auf die Verwendung von Lippenstift, Kamm und Seife als bisher weitgehend unbeachtetes Mittel zu Widerstand und Selbsterhaltung ermöglichen den Leser_innen eine neue Perspektive auf das Leben von Frauen, denen ihr Alltag entrissen wurde.


Henriette Schroeder
Ein Hauch von Lippenstift für die Würde. Weiblichkeit in Zeiten großer Not

Elisabeth-Sandmann-Verlag, erschienen September 2014
Hardcover, 304 Seiten
ISBN 978-3-938045-91-6
24,95 EUR
www.elisabeth-sandmann.de


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Beitrag vom 04.03.2015

AVIVA-Redaktion