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Beitrag vom 14.01.2015
Regina Scheer - Machandel
Helga Egetenmeier
Ein knappes Jahrhundert (ost)deutscher Geschichte erschließt der Debütroman der Kulturwissenschaftlerin Regina Scheer mit seiner Familiensaga um ein mecklenburgisches Dorf namens Machandel...
...und der Lebensgeschichte der Doktorandin Clara Langner, die dem alten Märchen vom Machandelbaum nachspürt.
Nach ihren Sachbüchern zum jüdischen Widerstand und dem Jüdischen Waisenhaus in der Auguststraße setzt Regina Scheer mit ihrem Roman eine große Klammer zwischen Familie und Staat und beleuchtet kenntnisreich Entstehung, Entwicklung und Ende der DDR. Liebevoll und dennoch widerspenstig, verständlich und dennoch aufwühlend, zeigt sie dabei die Menschen als Handelnde innerhalb sich verändernder Strukturen.
Das Märchen vom Machandelbaum
Aufgenommen in das Kinder- und Hausmärchenbuch der Gebrüder Grimm, erzählt "Das Märchen vom Machandelboom" (auch Wacholderbaum) die Geschichte der bösen Stiefmutter, die dem Vater den Sohn zum Essen vorsetzt, während die Schwester jedoch seine abgenagten Knöchelchen ein sammelt, sie in ein Tuch bindet und dies unter den Machandelbaum legt. Von dort kehrt der Bruder als schöner Vogel in die Welt zurück.
Clara, die tragende Figur der Familiensaga, erforscht für ihre Dissertation an der Humboldt-Universität Ende der 80er Jahre das Märchen vom Machandelbaum. Zur gleichen Zeit zieht sie mit ihrem Mann und den zwei Kindern aus Ost-Berlin in das Dorf Machandel, in dem ihre Mutter und ihr Vater zueinander fanden und ihr schmerzhaft vermisster älterer Bruder Jan aufwuchs.
Die Familiengeschichte der Clara Langner
"Während ich mich an die Tage im Januar und Februar 1988 erinnere, mehr als zwei Jahrzehnte danach, spüre ich, dass meine Erinnerungsbilder auch Teile eines Ganzen sind, die man bewahren, aneinanderreihen muss, auch wenn die Knöchelchen abgenagt und einige für immer verloren scheinen.", reflektiert Clara ihr Engagement in den oppositionellen Kirchenstrukturen der DDR und deren unmittelbaren und langfristigen persönlichen Auswirkungen.
Claras Perspektive auf ihre Familiengeschichte baut die Autorin durch vier weitere Ich-ErzählerInnen aus, ohne den gleichen Blickwinkel zu wählen oder einer strengen zeitlichen Chronologie zu folgen. Dabei grenzt sie ihre Figuren durch unterschiedliche Generationserfahrungen und Geschlechterverhalten deutlich voneinander ab. Der Vater und Funktionär steht gegen seinen Sohn, den Systemkritiker, wogegen die familienorientierte Mutter alkoholkrank wird und die Tochter in intellektuelle Opposition geht.
Mehr als eine Geschichte der DDR
"Die Ersparnisse meines Vaters waren längst aufgebraucht, seine Betreuungskosten stiegen. Ohne seine Zusatzrente als ehemaliger KZ-Häftling hätte er nicht in seiner Wohnung bleiben können.", blickt Clara auf das Leben ihres Vaters einige Jahre nach der Wende und dem Tod ihrer Mutter zurück. Hans Langner wurde aufgrund seiner politischen Vergangenheit zum Funktionär und baute die DDR mit auf, gegen deren System sich seine beiden Kinder später wandten.
Regina Scheer verbindet einfühlsam die Ereignisse am Ende des Zweiten Weltkriegs, als im Mecklenburgischen Dorf Machandel die wenigen BewohnerInnen mit unbehelligten Nazis, KZ-Überlebenden und ZwangsarbeiterInnen zusammentreffen und die Entstehung der DDR prägen. Unterschiedliche gesellschaftliche Positionen, familiäre Schicksale und individuelle Entscheidungen verknüpfen sich dort beispielhaft zu einem neuen Alltags- und Gesellschaftsleben.
An der unversöhnlichen Systemkritik des Sohnes, die sich vorwurfsvoll gegen seinen Vater richtet, zerbricht die Familie langsam. Seine Ausreise Mitte der 80er Jahre und die über den Fall der Mauer andauernde stumme Abwesenheit lässt seine Schwester Clara nicht in Ruhe. Gegen Ende ihres Buches führt Regina Scheer damit feinfühlig an die komplexe Thematik der Einsichtmöglichkeit in die Stasi-Akten heran.
Obwohl die Autorin ihren weiblichen Figuren viel Platz einräumt, agieren sie überraschend zurückgenommen. Die im Roman gesetzten Altersunterschiede scheinen dies zu erklären, der Mann ist neunzehn Jahre älter als seine Frau, der Sohn vierzehn Jahre älter als seine Schwester, diese fünf Jahre jünger als ihr Mann. Eine gewagtere weibliche Rollenzeichnung wäre dennoch eine Gelegenheit gewesen, auch das Geschlechterverhältnis in der DDR-Gesellschaft vielfältiger zu beleuchten.
AVIVA-Tipp: Regina Scheers generationsübergreifender Roman ist ein kleines Meisterwerk zur (ost)deutschen Geschichte, das durch sein einfühlsames und eindringliches Portrait einer historischen Zeit persönliches und politisches Bewusstsein schafft.
Zur Autorin: Regina Scheer, 1950 in Berlin geboren, studierte Theater- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität. Von 1972 - 1976 arbeitete sie bei der Wochenzeitschrift "Forum", deren Redaktion wegen "konterrevolutionärer Tendenzen" aufgelöst wurde. Anschließend war sie freie Autorin von Reportagen, Essays und Liedtexten und Mitarbeiterin der Literaturzeitschrift "Temperamente". Nach 1990 arbeitete sie an Ausstellungen, Filmen und Anthologien mit und veröffentlichte mehrere Bücher zu deutsch-jüdischer Geschichte, darunter "Im Schatten der Sterne" und "AHAWAH. Das vergessene Haus".
"Machandel" ist ihr erster Roman, sie erhielt für ihn 2014 den Mara-Cassens-Preis. Dieser nach seiner Stifterin benannte Literaturpreis, der seit 1970 vergeben wird und mit 15.000 Euro der höchstdotierte Literaturpreis für einen deutschsprachigen Romanerstling ist, wird als einziger Literaturpreis von einer LeserInnenjury vergeben.
Regina Scheer
Machandel
Knaus Verlag, erschienen: August 2014
Hardcover mit Schutzumschlag, gebunden, 480 Seiten
ISBN-13: 978-3813506402
22,99 Euro
www.randomhouse.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Regina Scheer – "Im Schatten der Sterne" Eine jüdische Widerstandsgruppe, Aufbau-Verlag 2004
Regina Scheer "AHAWAH. Das vergessene Haus", Aufbau-Verlag Neuauflage 2004
Regina Scheer "Max Liebermann erzählt aus seinem Leben" Verlag für Berlin-Brandenburg
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