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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 21.09.2014


Olga Grjasnowa - Die juristische Unschärfe einer Ehe
Dorothee Robrecht

Das Spröde und Sperrige des Titels täuscht: Erzählt wird eine rasante Dreiecksgeschichte, die scheinbar mühelos alle Grenzen hinter sich lässt, darunter auch die zwischen hetero-, homo- und ...




... bisexuell.

Schon die erste Szene ist filmreif. Sie spielt in Baku, der Haupstadt von Aserbaidschan, und schildert, wie eine junge Frau namens Leyla in einem Gefängnis von mehreren Polizisten zusammengeschlagen und vergewaltigt wird. Diese Leyla ist absolut kaltblütig. Nicht nur, dass sie alle Qualen hochmütig erträgt und ihren Peinigern ins Gesicht spuckt – auch der Grund ihrer Inhaftierung ist ein durchaus glamouröser: Leyla hat an einem illegalen Autorennen teilgenommen, als erste und einzige Frau. Das Draufgängerische liegt ihr ganz offenbar im Blut, sie ist die Enkelin einer sowjetischen Kampfpilotin, die Einsätze gegen die Nazis flog. Unmöglich, bei so einer Heldin nicht an Lara Croft zu denken und ein bisschen zu zweifeln: Kann eine Frau so cool sein? So durch und durch cool?

Ja, sie kann. Es ist die Kunst dieses Romans, Leser_innen genau davon zu überzeugen, und das auf sehr kluge und höchst spannende Art. Erzählt wird die Vorgeschichte der oben beschriebenen Szene, und in dieser Vorgeschichte geht es um zwei Frauen und einen Mann, die eine Dreiecksbeziehung führen. Eine der Frauen ist die schon erwähnte Leyla, die andere ihre Geliebte Jonoun, und dann gibt es da noch Altay, Leylas Mann. Die Schauplätze sind Baku und Berlin. In Baku sind Leyla und Altay aufgewachsen, Berlin ist die Stadt, in der sie heute leben, und hier treffen sie auch auf Jonoun, mit der Leyla eine Affaire beginnt.

Filmtauglich ist jede der drei Biographien. Von Leyla erfahren wir, dass sie, einer russisch- jüdischen Künstler_innendynastie entstammend, am Bolschoi getanzt hat. Weshalb übrigens sie auch die Folter so gut erträgt: Als Tänzerin hat sie gelernt, ihren Körper zu malträtieren und den Schmerz zu lieben. Altay, ihr Mann, ist ein schwuler Muslim und arbeitet als Psychiater. Und Jonoun schließlich, die Dritte im Bunde, ist eine Medienkünstlerin aus New York. Als sie mit Mitte 20 in Berlin und damit auch im Leben von Leyla und Altay auftaucht, hat sie schon einiges hinter sich. Geboren ist sie in Indien, aufgewachsen in Israel, auch verheiratet war sie schon, und ihr letzter Lover war der Neffe des Nazi-Schlächters von Vilnius. Starker Tobak das alles, doch der Roman präsentiert ihn quasi en passant, ganz so, als sei die kosmopolitische Extravaganz dieser Biographien das Normalste der Welt.

Und für die Autorin selbst ist sie das vermutlich auch. Wie ihre Heldin Leyla ist auch Olga Grjasnowa in Baku geboren. Auch Grjasnowa tanzt und lebt in Berlin. "In meinem Freundeskreis gibt es keinen Unterschied zwischen Juden und Nichtjuden, Muslimen und Christen, überhaupt keinen", hat sie in einem Interview gesagt, und klar ist, dass sie alte Demarkationslinien wie Religion oder auch Nationalität längst hinter sich gelassen hat. Und nicht nur die – ganz offenbar kann Grjasnowa auch mit deutlich intimeren Grenzsetzungen wie denen zwischen hetero-, homo- oder bisexuell nichts anfangen.

Eindeutig ist die sexuelle Identität bei keinem/keiner ihrer drei Protagonist_innen. Altay ist zwar schwul, aber er schläft auch gern mit Leyla. Die beiden Frauen wiederum genießen Sex mit Männern, doch absolut klar ist auch, dass sie einander lieben und begehren. Ein Happy End allerdings gibt es für ihre Liebe nicht. Der Roman endet damit, dass Jonoun von der Bildfläche verschwindet und Leyla eine gemeinsame Zukunft mit Altay plant.

Warum? Weil Leyla, so cool sie auch sein mag, letztlich Sicherheit sucht, eine dauerhafte Bindung. So zumindest steht es zwischen den Zeilen in diesem Roman. Dass Liebe trügerisch ist, hat sie schon als Kind gelernt, denn sicher sein konnte sie sich der Liebe ihrer Mutter nur dann, wenn sie funktionierte: "Leylas bisheriger Erfahrung nach resultierte Liebe aus Leistung, und sie hatte früh begriffen, dass sie tanzen musste, um geliebt zu werden. Also tanzte sie, und solange sie tanzte, wurde sie wie eine Prinzessin behandelt." Leyla ist eine Prinzessin mit versehrter Seele, und dass sie das ist, hat nicht nur familiäre, sondern auch gesellschaftliche Gründe: Die Homophobie, die Leyla zu spüren bekommt, als sie im Internat des Bolschoi mit einer Mitschülerin schläft, beschreibt der Roman sehr anschaulich.

Betroffen oder anklagend klingt er dabei nie. Ganz im Gegenteil: der Ton ist durchweg nüchtern. Dieser Roman empört sich nicht, über Homophobie nicht, und auch darüber nicht, was Menschen einander sonst noch so antun. Er erzählt einfach, und wenn er fasziniert, dann nicht zuletzt deshalb: So unsentimental und vor allem auch so abenteuerlich ist lange nicht mehr über die vergebliche Suche nach Liebe geschrieben worden. Von einem Mann nicht, und von einer Frau erst recht nicht.

AVIVA-Tipp: Ein beeindruckender und sehr lesenswerter Roman. Die Autorin schafft es nicht nur, eine Überfülle schier unglaublich scheinender biographischer Details als einigermaßen plausibel darzustellen. Sie liefert auch ein ungeschminktes Portrait der postsowjetischen Gesellschaften in Aserbaidschan und Russland. "Deutschland ist ein Pups, wenn du aus Russland kommst", hat eine russische Freundin der Rezensentin mal gesagt, und dieser Roman bzw. die Chuzpe seiner Held_innen gibt ihr recht, frei nach Frank Sinatra: "If I can make it in Russia, I´ll make it anywhere.

Zur Autorin: Olga Grjasnowa, geboren 1984 in Baku, Aserbaidschan, wuchs im Kaukasus auf. Längere Auslandsaufenthalte in Polen, Russland und Israel. Absolventin des Deutschen Literaturinstituts Leipzig. 2011 erhielt sie das "Grenzgänger-Stipendium" der Robert Bosch Stiftung. Derzeit studiert sie Tanzwissenschaften an der FU Berlin. Für ihren vielbeachteten Debütroman Der Russe ist einer, der Birken liebt wurde sie zuletzt 2012 mit dem Klaus-Michael Kühne-Preis und Anna Seghers-Preis ausgezeichnet. (Verlagsinformation)

Olga Grjasnowa
Die juristische Unschärfe einer Ehe

Fester Einband, 272 Seiten
Hanser Verlag, erschienen 25.08.2014
ISBN 978-3-446-24598-3
19,90 Euro
www.hanser-literaturverlage.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Interview mit Olga Grjasnowa (2012, anlässlich der israelisch-deutschen Literaturtage)

Mehr Infos unter:

Olga Grjasnowa liest aus "Die juristische Unschärfe einer Ehe": www.youtube.com


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Beitrag vom 21.09.2014

AVIVA-Redaktion