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Beitrag vom 21.06.2014
Dalia Grinkevičiūtė, Aber der Himmel - grandios
Bärbel Gerdes
Der erschütternde Bericht der Litauerin Dalia Grinkevičiūtė ist eines der wenigen Zeugnisse aus den stalinistisch-sowjetischen Gulags. Er zeigt die Härte und Unerbittlichkeit der ...
... sowjetischen Diktatur und zugleich eine unglaublich kämpferische junge Frau, die überleben und dabei Mensch bleiben will.
Allein schon die Geschichte des Manuskriptes! 1941 wird die vierzehnjährige Dalia zusammen mit ihrer Mutter und ihrem Bruder aus Litauen deportiert. Sechs Jahre verbringt sie auf einer Insel in der Arktis und darf dann den Ort mit einem Schiff Richtung Jakutsk verlassen, um eine Ausbildung zu machen. Ihre Mutter, die keine Ausreiseerlaubnis erhält, versteckt sich an Bord des Dampfers und wird entdeckt. Zur Strafe wird ihre Tochter in die Kohlegruben Kangalas verfrachtet. Nach der Rückkehr nach Jakutsk findet sie die geschwächte Mutter wieder, die sich sehnlichst wünscht, vor ihrem Tode noch einmal ihre Heimat zu sehen.
Illegal reisen beide Frauen 1949 nach Litauen, werden aber gesucht, so dass sie bei Bekannten und Verwandten wechselnden Unterschlupf finden müssen. Dalia Grinkevičiūtė, mittlerweile 22 Jahre alt, beginnt auf losen Blättern mit dem Schreiben ihres Berichtes über die Zeit im Gulag. Als die Mutter 1950 stirbt, begräbt ihre Tochter sie im Betonboden des Kellers ihres Elternhauses. Da sie vermutet, vom KGB beobachtet zu werden, vergräbt sie auch ihr Manuskript – in einem Weckglas im Garten.
Kurze Zeit später wird sie tatsächlich erneut verhaftet und wird, da sie sich weigert mit dem KGB zusammenzuarbeiten, von Gefängnis zu Gefängnis verschoben, bis sie schließlich sechs Jahre später nach Litauen zurückkehren darf.
Bis 1974 arbeitet sie als Ärztin, wird dann entlassen und erhält ein Arbeitsverbot. Sie schreibt ihre Erinnerungen in verkürzter Form erneut auf und verbreitet sie im Untergrund. 1979 gelangen sie nach Moskau, 1988 erscheinen sie in einer litauischen Zeitschrift, was die Verfasserin nicht mehr erlebt, da sie ein Jahr zuvor an Krebs stirbt.
1991 aber, nach der Unabhängigkeit Litauens, wird das Weckglas mit der ersten Manuskriptversion tatsächlich gefunden. Heute gehört dieses Werk zur Pflichtlektüre in litauischen Schulen.
Dalia Grinkevičiūtė schildert detailliert die Deportation 1941, die sie nach monatelanger Reise im August 1942 auf die arktische Insel Trofimowsk führt. Sie beobachtet genau die Reaktionen und Verhaltensweisen der Mitreisenden, die zunächst keine Ahnung haben, wohin sie unterwegs sind. 63 Waggons bringen 1500 Litauer "in eine unbekannte Ferne, in ein unbekanntes Leben". Dem 14-jährigen Mädchen ist bereits jetzt bewusst: "Toben, Spielen, Quatsch machen, Theater, die Freundinnen – das ist alles Vergangenheit." Zwischendurch müssen die Menschen aussteigen und schwere Arbeit verrichten, dann geht die Reise weiter. In Dalia wächst trotzdem der feste Glaube "was auch immer kommen mag, ich werde es überleben und basta". Die Fahrt wird mit Schiffen fortgesetzt, was einige zu der Annahme und Hoffnung führt, sie würden nach Amerika ausgebürgert werden.
Die Wahrheit übersteigt jedoch alle Vorstellungskraft. Sie werden auf der arktischen Insel Trofimowsk ausgesetzt, wo es nichts gibt, nicht einmal Behausungen. Aus Ziegeln und Holzstämmen, die sie mühsam heranschleppen müssen, werden Unterkünfte gezimmert, ärmliche Lebensmittelrationen werden ihnen zugeteilt und alle verrichten Schwerstarbeit. Der zehnmonatige arktische Winter naht, der Dauerfrostboden ist jetzt schon fast undurchdringbar.
Grinkevičiūtė berichtet von der Enge des Zusammenlebens, dem Egoismus aus Verzweiflung, den Hungerfantasien und dem gegenseitigen Bestehlen.
Sie schildert das Gerichtsverfahren gegen sie wegen Holzdiebstahls, den sie mit anderen beging, die ihr Beteiligtsein leugnen, während sie ihres zugibt. Sie erzählt von ihrem Kampf um das Überleben ihrer geschwächten Mutter.
Und dann ist in all diesem Schrecken der andere Blick: "Aber der Himmel – grandios. In allen Farben tanzte das Nordlicht. Alles ist hier erhaben: die grenzenlose Tundra, grausam und weit wie der Ozean [...] nur wir, hungrige Hunde [...] sind jämmerlich und lächerlich klein im Angesicht der majestätischen Arktis."
Es ist eine schwere Lektüre, eine kaum erträgliche Lektüre, es ist ein beeindruckendes Zeugnis eines Überlebenskampfes. Und es ist ein enorm wichtiges Buch für uns, denn es führt zu einem tieferen Verständnis der Reaktionen osteuropäischer Staaten auf das heutige Gebaren Russlands.
AVIVA-Tipp: alia Grinkevičiūtės Bericht bringt die Gräuel des stalinistischen Gulag-Systems, das Stalin weit überdauerte, ins Bewusstsein zurück und schildert gleichzeitig die unvorstellbare Stärke eines jungen Mädchens.
Zur Autorin: Dalia Grinkevičiūtė, 1927 im litauischen Kaunas geboren, wurde 1941 verbannt. 1949 Flucht mit der Mutter nach Kaunas, 1950 Verhaftung durch den KGB. 1954 Entlassung aus dem Lager, Medizinstudium in Oms und Kaunas. 1960 bis 1974 Ärztin in einem Provinzkrankenhaus, 1974 Suspendierung. 1977 Antrag auf Emigration, der abgelehnt wird. 1987 Tod in Kaunas.
Zur Übersetzerin und Herausgeberin: Vytenè Muschick, 1972 in Vilnius geboren. Studium der Litauischen und Skandinavischen Philologie. Seit 1995 Übersetzerin und Rundfunkautorin in Berlin.
Zur Übersetzerin und Herausgeberin: Anna Husemann 1976 geboren, Studium der Psychologie in Tübingen, Ann Arbor (USA) und Berlin. Dozentin für Psychologie in Kampala, Uganda. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt.
Dalia Grinkevičiūtė
Aber der Himmel - grandios
Originaltitel: Lietuviai prie Laptevu juros
Aus dem Litauischen übersetzt von Vytenè Muschick. Hrsg. von Vytenè Muschick und Anna Husemann. Mit einem Nachwort von Tomas Venclova
Matthes & Seitz Verlag, erschienen 2014
206 Seiten, gebunden
ISBN 978-3-88221-387-4
19,90 Euro
Mehr Infos und Lesungstermine unter: www.matthes-seitz-berlin.de
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