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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 23.04.2014


Ayana Mathis - Zwölf Leben
Claire Horst

In den USA werde Ayana Mathis als "würdige Nachfolgerin" von Toni Morrison gefeiert, heißt es vollmundig im Klappentext von "Zwölf Leben". Diese großspurige Ankündigung lässt skeptisch werden.




Doch auch wenn der Vergleich mit der Literaturnobelpreisträgerin etwas hoch gegriffen sein mag: Mathis wird den Erwartungen gerecht. Ihr Familienepos erzählt in zwölf Kapiteln und über beinahe einhundert Jahre von Hattie und ihren Kindern, die in einer von Rassismus und Armut, von Härte und strengen moralischen Regeln geprägten Welt aufwachsen. Der amerikanische Originaltitel "The Twelve Tribes of Hattie" drückt in seinem Anklang an die Bibel noch deutlicher aus, welche Rolle Hattie spielt: Sie ist nicht nur das emotionale Herz des Romans, sondern wird zur Ahnfrau, zur Stellvertreterin einer Generation von Frauen, deren Leben von Kämpfen geprägt ist, die all ihre Kraft in das Durchbringen ihrer Kinder setzen müssen und darüber verlernen, zu lieben und zu genießen.

1925 setzt die Erzählung ein, Hattie hat ihre Heimat in den Südstaaten der USA verlassen und ist wie Millionen anderer schwarzer AmerikanerInnen in den Norden gegangen, wo sie sich ein besseres Leben erwartet. Und wirklich erscheint Philadelphia anfangs wie eine Verheißung: Mit Erstaunen beobachtet Hattie, mit welchem Selbstbewusstsein Schwarze die ganze Breite des Bürgersteigs einnehmen oder auf dem Markt mit Weißen um Preise verhandeln – statt sich aus Angst vor roher Gewalt bis zum Verschwinden zurückzunehmen.

Doch trotz dieser Verbesserungen liegen vor Hattie mühselige Jahre voller Kämpfe, Enttäuschungen und Verluste. Vom Tod ihrer ersten Kinder und den Betrügereien ihres Mannes gebrochen, wird Hattie zu einer harten und strengen Frau. Auf ihre Kinder, die wechselnden ProtagonistInnen der folgenden Kapitel, wirkt die Mutter gefühllos und streng.

Wie mühelos Mathis von Kapitel zu Kapitel eine neue Perspektive einnimmt, von der tuberkulosekranken Alkoholikerin ebenso überzeugend erzählt wie von dem angeblich wiedergeborenen Prediger, dessen uneheliche Kinder sich über den halben Staat verteilen, von zwölf Personen, deren Leben und Persönlichkeiten bis auf die Herkunft kaum etwas gemeinsam haben, ist beeindruckend. Obwohl ihre Erzählung von Armut und Rassismus handelt, von Verzweiflung und Einsamkeit, lesen sich diese "Zwölf Leben" mit Leichtigkeit. Eine Toni Morrison ist Mathis vielleicht nicht, dazu fehlt ihrem Roman die abstrakte Ebene und der kämpferische Tonfall. Eine hoch begabte Erzählerin ist sie aber in jedem Fall.

Anders als Morrison ist Mathis eine Schreibschulen-Autorin, nämlich Absolventin des Iowa Writers´ Workshop, und das ist ihrem Schreibstil anzumerken. Ihr Text hat keine Ecken und Kanten, sondern lässt sich wie ein Schmöker verschlingen. Die thematischen Parallelen zu Morrisons Romanen sind nicht zu übersehen: Als schwarze Frau in einer von weißen Männern geprägten Welt erweist Hattie sich als selbstbewusste und starke Person, die dennoch den gesellschaftlichen Strukturen unterworfen ist. Und auch ihre Kinder befinden sich noch in diesem Kampf um Befreiung von den Zuschreibungen und Einschränkungen.

Wie Morrison thematisiert auch Mathis das Zusammenspiel von Geschlecht, Hautfarbe und sozialer Herkunft: So gehört Alice, eine Tochter von Hattie, durch ihre Heirat zwar inzwischen zur Oberschicht. Trotzdem muss sie ihre Identität ständig neu aushandeln und erkämpfen und traut dabei nicht einmal den eigenen Wünschen:

"Als Alice Eudine einstellte, hatte sie gehofft, Eudine würde ihre Vertraute werden, wie in alten Filmen, wo die Dame des Hauses an ihrem Frisiertisch sitzt und der Zofe, die ihr das Geschmeide abnimmt und in die Schmuckschatulle legt, ihre Geheimnisse erzählt. Oder waren es nur weiße Frauen, die ihre Zofen zu Vertrauten machten? Oder weiße Frauen, die ihre farbigen Zofen zwingen konnten, Vertraute zu sein. Vielleicht war Alice nur die Imitation einer reichen weißen Frau in einem großen Haus. Sie war sich nicht ganz sicher, was sie nachahmte."

Wie Alice kämpfen alle Figuren in diesem Roman mit ihren eigenen Dämonen. Manche von ihnen zerbrechen daran, anderen gelingt es, sich eine eigene Welt zu erkämpfen.

AVIVA-Tipp: Trotz der Wut und Verzweiflung, mit der Mathis´ Figuren sich durch ihr Leben kämpfen, ist "Zwölf Leben" keine deprimierende Lektüre. Ihrer Hauptfigur gönnt die Autorin zumindest auf den allerletzten Seiten noch ein Weicherwerden, ein Altern in Zärtlichkeit und der Versöhnung mit ihrem Schicksal. Aufgeben ist für Hattie keine Option.

Zur Autorin: Ayana Mathis wuchs in Germantown auf, einem ArbeiterInnenviertel in Philadelphia. Die Eltern trennten sich, als sie zwei war. Die Mutter litt unter schweren Depressionen, zog oft mit der Tochter um, förderte sie jedoch. Mathis ist Absolventin des berühmten Iowa Writers´ Workshop (Wallace Stegner, Philipp Roth, Michael Cunningham, Jane Smiley etc), und wurde mit dem Michener Copernicus Fellowship ausgezeichnet. Gleich mit ihrem ersten Roman gelang Mathis ein überragender Erfolg. (Verlagsinformationen)

Ayana Mathis im Netz: ayanamathis.com

Ayana Mathis
Zwölf Leben

Aus dem Amerikanischen von Susanne Höbel
Originaltitel: The Twelve Tribes of Hattie
dtv, erschienen Mai 2014
Hardcover, 368 Seiten
ISBN: 978-3-423-28028-0
19,90 Euro

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Beitrag vom 23.04.2014

Claire Horst