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Beitrag vom 12.03.2014
Anouk Markovits - Ich bin verboten
Judith Kessler
1939. Eine chassidische Gemeinde des Szatmarer Rebben in Siebenbürgen. Der 5jährige Josef Lichtenstein sieht, unter dem Küchentisch sitzend, zu, wie seine Mutter und seine kleine Schwester von ...
Möge ihr Name ausgelöscht sein
...einem Anhänger der rumänischen Eisernen Garde gemeuchelt werden. Florina, das rumänische Dienstmädchen, nimmt ihn zu sich, schneidet ihm die Schläfenlocken ab, nennt ihn Anghel und gibt ihn als ihren Sohn aus. Er lernt beten wie die Christen, Ochsen vor den Pflug zu spannen, den Acker zu pflügen und seine neue Mutter zu lieben...
Fünf Jahre später beobachtet er ein jüdisches Paar mit Kind, die offenbar auf der Flucht sind. Ein Zug fährt vorbei. Die Frau glaubt den Rebben zu erkennen, der an der offenen Tür des Viehwaggons sitzt und liest ohne aufzuschauen. Sie rennt auf den Zug zu – und wird von Pfeilkreuzlern erschossen, die kurz darauf auch den Mann ermorden. Ihre kleine Tochter Mila läuft Anghel in die Arme, der sie zu Zalman Stern bringt, dem Studienfreund ihres Vaters. Dass sie im Zug den Rebbe gesehen hat, glaubt Mila niemand – Viehwaggons mit Juden haben keine offenen Türen...
Als der Krieg vorbei ist, holt Zalman Stern den Jungen Anghel zu sich, nimmt ihn Florina weg. Sieben Jahre war er bei ihr, war ihr Sohn, ihr ein und alles und sie das seine. Anghel, der jetzt wieder Josef heißt, wehrt sich, erfolglos. Zalman Stern weiß sich im Recht, er bringt Josef seinem Volk zurück, wie es der Rebbe verlangt hat, der inzwischen in Amerika ist, wenngleich er immer gepredigt hatte: Ihr dürft nicht weggehen, nicht Thoraland für trejfene medine aufgeben. Josef sieht Mila wieder, wird aber bald nach Amerika zum Rebben verschifft.
1947 verlassen auch die Sterns Siebenbürgen, aus Angst vor den neuen kommunistischen Machthabern gehen sie nach Paris. Zalmans Tochter Atara und die adoptierte Mila kommen in eine jüdische Schule. Es ist die Zeit vor der Staatsgründung Israels. Während in der Schule gefeiert wird, lernen die Mädchen zuhause, dass die Zionisten "Marionetten des Satans" sind, von denen man sich fernhalten muss. Das Gelobte Land darf nicht aus eigener Kraft erschaffen werden, sondern die Befreiung wird durch ein Wunder geschehen.
Zalman trichtert Mila ein: Wenn sie sich immer wohlverhält, würden die Seelen ihrer Eltern näher zu Gott rücken, wenn nicht, würden sie in eine kalte Wüste verbannt, ohne Wiederkehr.
Aber Atara und Mila sind auch Kinder, vergessen beim Spielen die Gebote. Nachdem sie am Schabbat beim Radfahren erwischt werden, verdrischt Zalman seine Tochter erbarmungslos mit dem Gürtel, um ihr die "Moderne und den Zionismus" auszutreiben. In dieser Nacht wird der Samen zu Ataras Selbstbefreiung gelegt: "Reaktion auf das Gebot, das in ihre Gesäßbacken geprägt war wie in zwei Steintafeln". Mila hingegen fügt sich den auferlegten Regeln – die (Halb)schwestern beginnen sich zu entfremden.
Atara liest nur noch. Zalman zerreißt ihre Bücher, wo er sie findet: "Ich werde keinen Spinoza aufziehen, nicht unter meinem Dach". Sie entdeckt eine öffentliche Bibliothek und liest sich durch die moderne Literatur. Als sie das Abitur machen will, nimmt Zalman beide Mädchen vom Lyzeum, damit die Familie nicht aus dem Verzeichnis guter chassidischer Familien gestrichen wird. Sie wechseln auf eine orthodoxe Schule in England. Doch auch hier sind die Nachfragen Ataras zu den heiligen Texten nicht erwünscht. In der Thora stehe alles, was man wissen muss.
Atara revoltiert, als ihr beigebracht wird, dass mangelnder Glaube die Schoa gebracht hat, dass Eltern dafür gestraft wurden, dass sie ihre Kinder auf säkulare Schulen geschickt hatten, und dort, wo Kinder von Frommen getötet wurden, war "bitul thora" (zu wenig Tora) schuld. Ataras vehemente Gegenwehr wird eisig zur Kenntnis genommen. Es ist "eine Schande, dass du kein Junge bist!", aber "Denksport" ist verboten, die Schule soll die Seele, nicht den Geist anregen...
Atara ist allein mit ihrem Widerspruch. Sie hofft, Mila von ihrer Skepsis überzeugen zu können, mindestens in Bezug die Unfehlbarkeit des Rebben. Denn Ataras heimliche Recherche hatte zutage gebracht, dass Mila an dem Tag, als ihre Mutter erschossen wurde, tatsächlich den Szatmarer Rebben im Zug gesehen hatte, dass der nämlich mit einem "Prominentenzug" statt nach Auschwitz in die Schweiz gefahren war – nachdem er seine Leute (und damit Milas Familie) eindringlich vor den Zionisten gewarnt hatte, und ihnen befohlen hatte, ihre palästinensischen Ausweispapiere zu zerreißen. Sie hatte verstanden (es war die Zeit des Kasztner-Prozesses in Israel), dass der Rebbe sein Überleben eben keinem Wunder, wie seine Anhänger es jedes Jahr feierten, verdankte, sondern der Hilfe der verhassten Zionisten! Auch wenn diese Nachricht Mila schockiert und wie ein Stachel in ihrem Herz und Kopf sitzen wird, vermag es ihr Handeln nicht zu beeinflussen. "Der Herr befielt, der Mensch gehorcht".
Bald darauf wird Mila mit Josef alias Anghel, der inzwischen zum Hof des Rebben in Williamsburg gehört, verheiratet – passend, schließlich haben beide große chassidische Gelehrte im Stammbaum: "Gab es einen besseren Abschluss für ihre entwurzelten und dann wieder neu begonnenen Kindheiten als einander zu heiraten?" Die arrangierte Ehe ist eine Liebesheirat, deren Sinn darin besteht, "dem Volk Israel für die ermordeten Eltern und Geschwister neue Namen zu machen." Doch...
Atara ("Beste Freundin, Schwester fürs Leben") bleibt indes zurück in Paris. Wenig später, verlässt sie, nur mit Zahnbürste und Unterwäsche im Gepäck, heimlich ihr Elternhaus – bekommt ihre Freiheit und verliert ihre Familie. Der Name Atara ist im Hause von Zalman Stern von diesem Tag an verboten...
Und kommt erst 37 Jahre später wieder ins Spiel, als auch Milas und Josefs mühsam aufrechterhaltene Welt zusammenbricht, weil ihre Enkelin Judith kurz vor ihrer geplanten Hochzeit eine unter furchtbaren Qualen verborgene Lebenslüge ihrer Großeltern entdeckt. Mit ihrer Heirat würde die Abstammungslinie des frömmsten alle Chassiden beschädigt. Ja, auch sie, Judith, ist verboten! Das Drama nimmt seinen Lauf...
AVIVA-Tipp: Der unprätentiöse Roman von Anouk Markovits, der stark autobiographisch geprägt ist – sie selbst stammt aus einer Szatmarer Familie und hat die Gemeinde und ihre Familie 19-jährig für immer verlassen –, ist ein selten erlaubter, so faszinierender wie Schaudern machender Blick in die Innenwelt des ultraorthodoxen Judentums. Ein Blick auf engst auszulegende Spielregeln, auf lebensbestimmende mikroskopische Details, auf vertrackte Vorschriften und Ausnahmen, das Dickicht der Midraschim und biblischen Kommentare, elitäres Gedankengut, ein unerbittliches Gesetz, das die Weitergabe der Gene zur Hauptaufgabe der Frauen macht und sie bei Nichterfüllung bestraft, auf die Dämonisierung jeglicher nichtorthodoxer Lebensform und, wie in Anouk Markovits´ Roman, auf Entscheidungen (Fehler?), die in diesem haarscharf abgezirkelten Universum von Blut und Glauben dominoprinzipartig über Generationen "bis ins zehnte Glied" ihre unheilvolle Wirkung entfalten können.
Zur Autorin: Anouk Markovits wurde in Frankreich geboren, ihre Familie waren Satmar-Chassidim. Mit 19 Jahren verließ sie diese Welt, um einer arrangierten Heirat zu entgehen, und studierte Literatur und Architektur. Ihren ersten Roman schrieb sie auf Französisch, nun, 20 Jahre später, wechselte sie mit der Geschichte über Mila, Atara und Joseph, die sie vor dem Hintergrund ihrer eigenen Familiengeschichte erzählt, ins Englische. Anouk Markovits lebt in New York.
Weitere Infos unter: anoukmarkovits.com
Anouk Markovits
Ich bin verboten
Originaltitel: I am forbidden
Aus dem Amerikanischen von Anne Rademacher
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 288 Seiten, 12,5 x 20,0 cm
ISBN: 978-3-8135-0497-2
Euro 19,99
Knaus Verlag, erschienen 2. September 2013
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